In meiner Heimatstadt gab es bildungstechnisch spätestens ab der Orientierungsstufe (Klasse 5 und 6) fünf Gruppen von Schülern: Erstens jene, die keinerlei Interesse an Bildung hatten und stolz den Weg in das Prekariat gehen wollten; zweitens jene, deren Eltern im “Deutschen Bücherbund” organisiert waren und sich dort mit Büchern regelmäßig versorgten (diese Eltern kamen auffallend häufig aus den Kreisen der selbstständigen Handwerker und Geschäftsleute); drittens die Schüler, die im “Club Bertelsmann” einkaufen durften (sie stammten oftmals aus Familien aus dem Angestellten- und Beamtenmilieu wie auch aus dem Öffentlichen Dienst); viertens solche, die ihre Bücher über die “Büchergilde Gutenberg“ kauften (deren Eltern kamen hauptsächlich aus dem Arbeitermilieu und aus gewerkschaftlicher Organisiertheit); und schließlich diejenigen Schüler, die es sich leisten konnten, bei den vier ortsansässigen Buchhändlern regelmäßig zu kaufen (deren Eltern waren meistens Lehrer, Freiberufler und leitende Angestellte).
Ich selbst gehörte zur Gruppe der “Deutschen Bücherbundler“ – war es für meine im Handwerk tätigen Eltern mit Ladengeschäft doch nahezu unmöglich, zu den normalen Geschäftszeiten in der Stadt einkaufen gehen zu können. Deshalb war die Möglichkeit, sich Bildung via Katalog bestellen zu können, durchaus reizvoll. Der jeweils neue Halbjahreskatalog wurde stundenlang durchgeblättert und der Klappentext der Bücher gelesen. Mein bester Freund damals war Mitglied des “Clubs Bertelsmann“; oft sind wir auf dem Heimweg nach der Schule gerne dort beim “Club“ eingekehrt und haben uns über Bücher unserer jeweiligen Interessensphäre informiert.
Nur Bücher
Irgendwann verschlug es mich einmal ins Rosentorviertel unserer Stadt, das meinem Lebensmittelpunkt diametral entgegengesetzt lag. Dort gab es einen Laden, der sich “Büchergilde Gutenberg” nannte. Die Auslage sah spannend aus – also trat ich ein. Im Gegensatz zu den modernen, bunten Buchhandlungen mit reichlich Schnickschnack im Ladengeschäft (Kunstdrucke, Bildkalender, Spiele, et cetera) gab es hier wirklich nur Bücher. Ein überschaubarer Raum, an allen vier Wänden bis zur Decke mit Regalen zugestellt, die allesamt prall gefüllt waren mit Büchern aller Art. In der Mitte befand sich eine kleine Theke, und dahinter ein hölzerner Armlehnstuhl mit einem durchgesessenen, abgewetzten und mittlerweile farblosen Kissen. Auf diesem Stuhl saß ein alter Mann, der den Laden meistens “schmiss“. Es handelte sich um “Alexander“ (der eigentlich Wilhelm hieß, aber sich eben lieber Alexander nannte und demzufolge auch von allen “Alex“ gerufen wurde). Alexander war Geburtsjahrgang 1899, ehemaliger Stahlarbeiter aus Salzgitter, DKP-Mitglied, Gewerkschafter, und er besserte sich mit seiner Tätigkeit in der Büchergilde, seit er 1971 Witwer geworden war, seine bescheidene Rente etwas auf.
Die Büchergilde war für mich eine wahre Entdeckung, eine Art Schatzkammer der Literatur, verborgen in einer Ecke der Stadt, die ich sonst selten besuchte. Die Atmosphäre dort war so anders als in den modernen Buchhandlungen, in denen man oft von einem Überangebot an bunt schillernden Covern und allerlei Nicht-Buch-Artikel erschlagen wird. Hier war es still, fast andächtig. Der Geruch von altem Papier und Holz durchzog den Raum und erzeugte eine fast greifbare Aura der Vergangenheit.
Alexander, mit seinen tiefen Falten und den Augen, die hinter einer runden Brille hervorblitzten, war ein Mann voller Geschichten. Es dauerte nicht lange, bis ich mit ihm ins Gespräch kam. Seine Stimme war leise, aber kräftig, und er erzählte mir von seinem Leben, als hätte er mich schon immer gekannt. Geboren am Ende des 19. Jahrhunderts, hatte er zwei Weltkriege erlebt und überlebt, eine Karriere in der Stahlindustrie hinter sich und viele Jahre des politischen Engagements in der Deutschen Kommunistischen Partei. Er sprach mit einer Mischung aus Stolz und Wehmut über die Zeiten, als er für die Rechte der Arbeiter kämpfte und sich in den Gewerkschaften engagierte.
Die Büchergilde war für Alexander mehr als nur ein Ort des Broterwerbs. Es war sein Zufluchtsort, ein Ort, an dem er seine Leidenschaft für Bücher und Wissen mit anderen teilen konnte. Er war kein gewöhnlicher Buchhändler; er war ein Hüter der Literatur, ein Mann, der in den Seiten der Bücher ebenso lebte wie in der realen Welt. Sein Wissen über die Bücher, die er verkaufte, war beeindruckend. Er konnte über jedes Buch in seinem Laden sprechen, als ob er es selbst geschrieben hätte. Oft empfahl er mir Bücher, die ich sonst nie in Erwägung gezogen hätte, und jedes Mal traf er genau meinen Geschmack.
Der Laden selbst hatte eine interessante Geschichte. Er war ursprünglich in den 1920er Jahren gegründet worden, in einer Zeit, in der Bücher nicht nur als Unterhaltungsmedien, sondern als mächtige Werkzeuge der Bildung und Aufklärung angesehen wurden. Die Büchergilde Gutenberg war Teil einer Bewegung, die Literatur für die breite Masse zugänglich machen wollte, fernab von den elitären Zirkeln der damaligen Zeit. In den Jahren des Nationalsozialismus war der Laden geschlossen und viele seiner Bücher verbrannt worden, aber nach dem Krieg hatte er wie durch ein Wunder wiedereröffnet und war seitdem ein fester Bestandteil des Rosentorviertels geblieben.
Alexander erzählte mir von den schwierigen Zeiten, als das Lesen und der Verkauf von Büchern, die als subversiv oder regierungskritisch galten, gefährlich war. Er selbst hatte einige Male riskieren müssen, als er Schriften unter der Ladentheke verkaufte, die nicht im Einklang mit den staatlichen Vorgaben standen. Doch für ihn war das Risiko immer gerechtfertigt; Bücher waren in seinen Augen die mächtigste Form des Widerstands gegen Unterdrückung und Ignoranz.
Während unserer Gespräche lernte ich viel über die Geschichte der Literatur und die Bedeutung von Büchern in verschiedenen Epochen. Alexander war eine lebendige Enzyklopädie, und jede seiner Geschichten war eine Lektion in Geschichte, Politik und Menschlichkeit. Er erzählte von Autoren, die er persönlich kannte oder bewunderte, von Verlegern, die in schwierigen Zeiten den Mut hatten, kontroverse Werke zu veröffentlichen, und von den Veränderungen in der Buchbranche, die er über die Jahrzehnte beobachtet hatte.
Besonders faszinierend fand ich seine Erzählungen über die Bücher, die in den Regalen seines Ladens standen. Er sprach über sie, als wären sie alte Freunde, die ihm ihre Geheimnisse anvertraut hatten. Es gab Werke von bekannten und unbekannten Autoren, Klassiker der Weltliteratur neben modernen Romanen, politische Traktate neben philosophischen Abhandlungen. Alexander konnte die Geschichte hinter jedem Buch erzählen: Wie es entstanden war, welche Wirkung es hatte und warum es seiner Meinung nach wichtig war. Seine Begeisterung war ansteckend, und ich begann, Bücher mit neuen Augen zu sehen.
Ein Buch, das er mir besonders ans Herz legte, war ein verstaubter, aber gut erhaltener Band von Heinrich Heine. „Heine ist mehr als nur ein Dichter“, sagte er. „Er ist ein Spiegel seiner Zeit, ein Kritiker und Visionär.“ Er erzählte mir von Heines Leben, seinen Kämpfen und seiner Liebe zur Freiheit. Ich nahm das Buch mit nach Hause und las es in einem neuen Licht, bereichert durch Alexanders Einblicke und seine lebendige Erzählkunst.
Die Besuche in der Büchergilde wurden für mich zu einem regelmäßigen Ritual. Jedes Mal, wenn ich den Laden betrat, fühlte ich mich, als würde ich eine andere Welt betreten, eine Welt, in der die Zeit stillstand und die Geschichten der Vergangenheit lebendig waren. Alexander wurde für mich nicht nur ein Buchhändler, sondern ein Mentor und Freund, jemand, der mir half, die Welt durch die Seiten der Bücher besser zu verstehen.
Eines Tages, als ich wieder einmal in der Büchergilde war, erzählte mir Alexander, dass er plane, sich zurückzuziehen. Er war mittlerweile über 80 Jahre alt, und obwohl ihm seine Arbeit noch immer Freude bereitete, fühlte er, dass es Zeit war, den Staffelstab weiterzugeben. „Die Bücher werden weiterleben“, sagte er mit einem wehmütigen Lächeln. „Aber ich muss jetzt an die nächste Generation denken.“ Sein Nachfolger war ein junger Mann namens Erik, der ebenso leidenschaftlich über Bücher sprach und Alexanders Vision weiterführen wollte.
Der Abschied von Alexander war ein emotionaler Moment. Er hinterließ ein Erbe, das weit über den Laden hinausging. Seine Geschichten, sein Wissen und seine Liebe zu den Büchern hatten einen tiefen Eindruck hinterlassen, nicht nur bei mir, sondern bei allen, die das Glück hatten, ihn zu kennen. Die Büchergilde Gutenberg blieb ein Ort der Entdeckung und Inspiration, und jedes Mal, wenn ich den Laden besuchte, erinnerte ich mich an die Gespräche mit Alexander und die vielen Lektionen, die er mir beigebracht hatte.
Alexander selbst zog sich in ein kleines Haus am Stadtrand zurück, wo er seine letzten Jahre verbrachte, umgeben von seinen Büchern. Wir blieben in Kontakt, und hin und wieder besuchte ich ihn, um ihm von den neuesten Entwicklungen in der Büchergilde zu erzählen und mich von seinen Geschichten inspirieren zu lassen. Sein Geist und seine Weisheit lebten weiter in den Seiten der Bücher, die er so sehr liebte, und in den Herzen derer, die er berührt hatte.
Mit Alex habe ich so manche kontroverse Diskussion geführt – er war ein guter Diskussionspartner, weil er unfassbar belesen war. Manchmal diskutierten wir sogar über Wesentliches, also nicht über Tagespolitik; dann drehte Alex mächtig auf (und ich höre jetzt, da ich diese Zeilen niederschreibe, wieder seine warme, sonore Stimme) und legte immer wieder – und das wirklich bei jeder Diskussion – das Konzept der Büchergilde dar. “Wir sind der mächtige vierte Stand! Wir sind die Kraft, die unser Land zweimal wieder aufgebaut hat, wir sind die Stimme der Arbeiterschaft! Merk Dir das: Wir brauchen die drei Hs, um unser Land in eine lichte Zukunft führen zu können: Das erste H ist die Hand mit der der Arbeiter den Produktionsprozess durchführt. Das zweite H ist das Herz, das jeder gute Sozialist haben sollte und das dritte H ist das Hirn, die Bildung und das Können, die die Büchergilde vermittelt, denn unser Wissen ist unser Vermögen. Wir müssen dem Vermögen des Kapitals unser Vermögen an Wissen entgegensetzen! Nur so kämpfen wir auf Augenhöhe. Deshalb lies so viel Du kannst, das ist besser und wertvoller als jede Aktie von Standard Oil!“
Die Dankbarkeit ist geblieben
Was Alex heute wohl sagen würde über die Opportunisten in der Linkspartei, den Grünen und SPD? Über die Hüpf- und Klebekinder, den Klima-Irren? Über die Kriegstreiber in deutschen Parlamenten? Über Studienabbrecher in hohen politischen Ämtern? Über die sozialdemokratische, grüne und linke Bildungsferne, die zum neuen Bildungsideal erhoben wird? Alex war ein sehr belesener, aufrichtiger Mann, der mehrfach in seinem Leben für seine Ideale eingetreten war und teilweise darunter zu leiden gehabt hatte. Es ist irgendwie ein barmherziger Akt Gottes, an den er nicht so recht glauben wollte, dass ihn die Entwicklung der letzten 39 Jahre, die seit seinem Tod vergangen sind, nicht mehr erreicht hat – Und vor allem, dass er, der Idealist, nicht mehr miterleben musste, wie eine “moderne” SPD aus Opportunisten und leistungstechnischen Rohrkrepierer “ihre” Arbeiter verriet.
Bei den vielen Besuchen in der Büchergilde habe ich meiner Bibliothek so manches Schnäppchen zuführen können. Und ich bin Alex dankbar, dass er mir oftmals sehr wichtige Tipps und Empfehlungen gegeben hat. Mit einer seiner Empfehlung, die er mit seinem Standardspruch “Das Buch das gildet!“ an mich verkaufte, möchte ich schließen – es handelt sich um einen Band mit dem veröffentlichten Briefwechsel zwischen dem Sozialisten G. B. Shaw und dem ultrakonservativen Winston Churchill, die Zeit ihres Lebens eine Art Hassliebe miteinander verband. Dieser Band war gekennzeichnet von feixenden und angedeuteten wechselseitigen Seitenhieben der beiden. Mal hatte Shaw, mal Churchill die bessere Pointe auf seiner Seite. In diesem Buch lese ich seit nunmehr über 40 Jahren immer wieder gerne und entdecke stets neue Gesichtspunkte.
Hier ein Beispiel zum Abschluss dieser Glosse: Eines Tages schrieb Shaw im Begleitbrief zu einer Übersendung von zwei Billets an Churchill: “Sehr geehrter Herr Premierminister, anbei finden Sie in tiefer Ergebenheit zwei Eintrittskarten für die am Freitag stattfindende Weltpremiere meines neuesten Stückes. Die Karten sind gedacht für Sie und einen Ihrer Freunde – so Sie einen haben. Hochachtungsvoll G.B.S.“ Churchill antwortete darauf: “Hochgeschätzter Maestro der Bühne, leider kann ich zu der Weltpremiere Ihres neuesten Stückes nicht erscheinen – wichtige Staatsgeschäfte halten mich ab. Aber ich verspreche Ihnen, dass ich zur zweiten Aufführung erscheinen werde – so es eine gibt. Mit besten Grüßen W. Churchill“.
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3 Antworten
Dem Artikel kann ich nur zustimmen. Ich bin seit frühester Kindheit bibliophil, hab manches Mal drei Bücher gleichzeitig gelesen und war aktives Mitglied aller (8) Bibliotheken im Umkreis von 30 km. Ich glaube, ich kann sagen, dass ich dadurch zwei Dinge gelernt habe. Zum Einen ein solides Grundwissen, abseits von Halbwahrheiten und zweitens den Drang, alles zu hinterfragen und auf Glaubwürdigkeit zu prüfen, gerade, weil ich bis heute besonders gerne Phantasy und Science Fiction lese.
Leider ist es jetzt aber so, dass ich mich täglich frage, wozu ich lebe, wenn ich sehe, wie regierungshörig alle Deutschen geworden sind. Angefangen von offen falschen “News” bis zu (bewußt) gefälschten – aber leicht nachprüfbaren – Meldungen (z.B. veröffentliche Corona-Daten, während auf den offiziellen Webseiten von RKI, PEI oder DIVI täglich für alle abrufbar völlig andere Daten veröffentlicht wurden). Jeder schluckt den Blödsinn wie eine göttliche Offenbarung. Das Schlimmste aber ist, das jeder Versuch, darüber zu diskutieren mit der NAZI- Keule abgewürgt wird. Wohl gemerkt, ich tolleriere (fast) alle Meinungen, solange es nicht “persönlich” wird. Aber diese Zeiten sind anscheinend in Deutschland vorbei. Inzwischen habe ich resigniert. Ich hoffe jetzt darauf, dass das neue Euthanasiegesetz aus Kanada bei uns eingeführt wird, dann bin ich weg.
Da ist klar, warum nach Ende des Ostblocks Tausende Tonnen Bücher entsorgt wurden, sonst könnte sich jemand zB. in Mathe u. Natwissenschaften bilden. Selbst auf Dörfern gabs Büchereien, heute schon lange nicht mehr.
Bruder im Geiste! Auch meine Gedanken kreisen in letzter Zeit um die Möglichkeit, Rolf Peter Sieferle zu folgen. Dann treffen wir uns mit Sicherheit in einer besseren Welt! Der Büchergilde Gutenberg bin ich als Jünger der Schwarzen Kunst zwangsläufig bereits in der Lehrzeit beigetreten. Nach einem halben Jahrhundert war aber Schluss mit quartalsweiser Buchbestellung. Das Angebots-Programm(!) und auch Platznot daheim zwangen mich zu diesem Schritt.
Mitter der Siebziger habe ich mir damals ein 20-bändiges »Lexikon der Büchergilde« vom Munde abgespart. Monatlich ein Band. Im Band 8 kam nach »Holmium« der Kristall »Holoeder«. Das größte Verbrechen der Deutschen war damals noch nicht verzeichnet.