Chopin zum unzeitigen Gedächtnis

Chopin zum unzeitigen Gedächtnis

Begnadung in Tasten: Chopins Vermächtnis (Symbolbild:Wikicommons)

Wie die Welt sein wird am Jüngsten Tag, weiß ja niemand. Dass alles einigermaßen plötzlich zu Ende geht, ist aber ausgemacht: Chopin hat das entsprechend auskomponiert. Ex nihilo, aus dem Nichts, das einst die Schöpfung entbarg, kommt unerwartet und radikal rückwärtsgewandt das Chaos wieder zum Vorschein. Es bricht herein, ohne die Sicherheitssysteme vorher um Erlaubnis gefragt zu haben. Wir Heutigen sind geneigt, das empörend zu finden. In früheren Zeiten sah man das vielfach anders. Der lutherische Pfarrer Bartholomäus Ringwaldt scheint sich sehr auf das kosmische Ende gefreut zu haben, dessen Termin er für das Jahr 1584 berechnete. Als seine Vorhersage nicht eintraf und er sozusagen seinen eigenen Weltuntergang unfallfrei überlebt hatte, dichtete er seinem Lied „Es ist gewisslich an der Zeit“ einen Vorwurf und eine dringliche Bitte an den Heiland höchstpersönlich hinzu (Evangelisches Gesangbuch unter der Nummer 149): „O Jesu Christ, du machst es lang / mit deinem Jüngsten Tage; / den Menschen wird auf Erden bang / von wegen vieler Plage. / Komm doch, komm doch, du Richter groß, / und mach uns bald in Gnaden los / von allem Übel. Amen.

Rund zweihundertfünfzig Jahre später stand die Erde immer noch, sogar in Paris, wo Fryderyk Chopin (1810-1849) als Emigrant eine zweite Heimat gefunden hatte. Der polnische Aufstand von 1830 und den Folgejahren war niedergeschlagen worden – somit gehörte „Kongresspolen“ weitgehend der Geschichte an. Der Traum vom eigenen Staat schien für alle Zeiten ausgeträumt, und die Intellektuellen pflegten fortan ihr nationales Erbe im Geist, vor allem im literarischen und musikalischen Schaffen, zumeist im französischen Ausland.

Reise in eine ungewisse Zukunft

Für Chopin war allerdings diese Entwurzelung zugleich Bekanntschaft mit dem Land seiner Vorfahren: Die Familie seines französischen Vaters Nicolas Chopin, der als Sechzehnjähriger nach Polen ausgewandert war, hatte in Lothringen einen Weinberg bewirtschaftet, just an jenem Ort, wo sich ein Schloss befand, das zeitweilig Adligen aus dem Tross des vorletzten polnischen Königs gehörte – nachdem dieser ins Exil gezwungen und von seinem Schwiegersohn, dem König von Frankreich, in diese Gegend eingeladen worden war.

Die Reise in eine ungewisse Zukunft und das Bleiben zeitlebens in ihr hatte also für den zwanzigjährigen Pianisten und Komponisten eine kleine Tradition, und der Enddreißiger starb schließlich vor 176 Jahren, am 17. Oktober 1849, im gespaltenen Bewusstsein eines expatriierten Polen. Es gab zwei Bestattungen ein und desselben Mannes: Die äußere leibliche Hülle ruht auf dem Père-Lachèse-Friedhof zu Paris, sein Herz hingegen in einer Säule der Heilig-Kreuz-Kirche zu Warschau. Frédéric Chopin befand sich als Wahlfranzose geistig in offener Gesellschaft, war doch 1830 ein gesamteuropäisches Revolutionsjahr. Das berühmte Gemälde von Delacroix „Die Freiheit führt das Volk“ ist ein Werk der Julimonarchie des sogenannten „Bürgerkönigs“ Louis Philippe d’Orléans.

Schöngeistig-restrospektives Moment dreier Ausnahmemusiker

Durch die Geschehnisse in Frankreich wuchs vielerorts in Europa die Hoffnung auf Abschüttelung größeren Jochs: Der belgische Staat entstand, das moderne Griechenland nahm Gestalt an, und auch in verschiedenen italienischen Gegenden rumorte es im Blick auf eine hellere Zukunft. Nur in der Musik nahm die Weltuntergangsstimmung ab 1830 eher zu. Beethoven war drei Jahre zuvor gestorben, auch Schubert seit 1828 nicht mehr unter den Lebenden. Die nun aufstrebenden Künstler hießen Schumann, Mendelssohn und eben – Chopin. Die gebührende Hochachtung vor ihrem Schaffen muss in der Erkenntnis der jeweiligen Wurzeln liegen: Mit diesen drei Ausnahmemusikern setzte ein retrospektives Moment ein, das sich schöner Literatur als Ideengeber bediente (Schumann), lodernder Bachbegeisterung sich hingab (Mendelssohn) oder wehmütiger Nationalmusik sich befleißigte (Chopin).

Schumann, Mendelssohn und Chopin waren eingesponnen in die Metternich’schen alleuropäischen retrospektiven Umstände ihrer im weitesten Sinne romantischen Verhältnisse. Alle drei sind sich persönlich begegnet, und besonders das Tête-à-tête von Chopin und Schumann 1836 in Leipzig ist folgenreich geworden. Heraus kam seitens des polnischen Exulanten aus Paris seine dem deutschen Verehrer gewidmete zweite Ballade für Klavier, fertiggeschrieben auf Mallorca im Winter 1838/39 unter innerlich wie äußerlich schlimmsten Bedingungen. Seine Lebensgefährtin, die französische Schriftstellerin mit dem männlichen Künstlernamen George Sand, entfremdete sich mehr und mehr von dem kranken und empfindsamen Künstler. Das Stück beginnt völlig harmlos in F-Dur und endigt in erst unbändigem, später fahlem a-Moll. Es ist eine auskomponierte Katastrophe, in der sich kommende unheilvolle Zeiten manifestieren:

Das werkimmanente Unglück setzte sich fort, als beim Warschauer Chopin-Wettbewerb 1980 der kroatische Jungstar Ivo Pogorelich nicht in die Endrunden zugelassen wurde. Aus Protest gegen die Mehrheitsmeinung verließ die renommierte Pianistin Martha Argerich wütend die Jury. Türenknallend soll sie ausgerufen haben: „Alle Töne waren falsch. Er ist ein Genie!“ Dem damals 22jährigen jugoslawischen Nachwuchskünstler hat dieser Skandal keineswegs geschadet; denn Charakter und Sound des Stückes sind seitdem durch einen der ersten Pop-Stars in der Interpretenwelt der sogenannten „klassischen Musik“ – trotz einiger Patzer – für Ewigkeiten getroffen.

Wer Chopin verstehen will, kommt an Mozart nicht vorbei und kann Schumann nicht außer acht lassen. Der polnische Jüngling hatte reüssiert mit Variationen zur Arie „Reich mir die Hand, mein Leben“ aus Wolfgang Amadé Mozarts „Don Giovanni“, begeistert besprochen von Robert Schumann. Und bei der Trauerfeier für den längst von seiner Mannfrau verlassenen Künstler wurde, seinem letzten Wunsch gemäß, Mozarts Requiem aufgeführt. Dessen Sequenzvertonung „Dies irae“ gehört zu den großen Schockern des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts. Aber noch heftigeren Schrecken verursacht bis heute das Opernfinale mit dem steinernen Gast: Nie hat sich Mozart harmonisch kühner und todesgewisser ausgedrückt als angesichts der Höllenfahrt seines Alter Ego, des in der Welt des Ancien Régime wesenden adligen Lebemannes Dom Juan.

Trillerzürnend und untiefenwankend

Plötzlich, in einem Augenblick“, lutherisch mit den Worten aus dem ersten Korintherbrief des Apostels Pauluszum Klang gebracht knapp eine Generation nach Chopin im “Deutschen Requiem” des von Schumann bis zum Wahnsinn geliebten Johannes Brahms: Da wird besungen, was tatsächlich im Jüngsten Gericht geschieht. Und doch sind alle diese musikalischen Werke inhaltlich nicht so beklemmend, was Tremor und Furor angeht, wie jener Bruch in der zweiten Klavierballade des polnisch-französischen Klaviervirtuosen und Tonsetzers. Chopin, Opus 38, Übergang von Takt 45 zu Takt 46 (im Video Minute 3, Sekunde 9): Im Gegensatz zu Mozarts Komptur-Szene, wo, wenngleich schlagartig düster, dann doch letztlich die aus der Ouvertüre und aus der Friedhofsszene bereits vertrauten Motive und Melodien ertönen, weiß man hier im Vorhinein so rein gar nicht, was einen erwartet.

Hier rastet jemand aus. Der erste a-Moll-Ausbruch ist nur kurz, man könnte meinen, da sei die Musik lediglich mal eben für ein paar Takte aus der Spur geraten. Doch weit gefehlt! Der Furor kehrt wieder, zunächst nicht ganz so schlimm scheinend, weil etwas vorzeitiger sich in aufstrebend-vollakkordischen Motivgruppen ankündigend: Aber der Tremor verstärkt sich dann doch, geht trillerzürnend und untiefenwankend über in ein Schreckensfinale, das seinesgleichen sucht. Wo in Konzerten eine Kadenz folgen würde, ist eine Generalpause, dann erklingt der klagend matte Abgesang aus Motiven des Eingangsthemas, traurig ohne bisherige Raserei, vielmehr beklemmend aussichtslos sich ins Schicksal fügend. Doch sage keiner, da habe jemand vorher nicht bis zuletzt gekämpft!

Quintessenz aus Bach und Beethoven

Manchmal denke ich, es wäre gut, wenn Chopins Klavierkosmos zur Pflichtlektüre erhoben würde – gleich dem Liederschatz der Kirchen. Man muss da natürlich aufpassen: Der sehr nachlässige Normkatholik Chopin wurde ja von den Mallorquinern auch deshalb tratschend verworfen, weil er mit seiner Nichtehefrau und deren (in den Augen der Spießer) unsittlich und noch nicht einmal durch ihn entstandenen Kindern niemals in die Messe ging. Choralbearbeitungen waren unter solchen Umständen kaum zu erwarten, wenn man von Religioso-Abschnitten und polyphonen Takten in seinem übrigens höchst diffizilen und differenzierten kompositorischen Werk einmal absieht.

Wenn es denn zutrifft, dass Bachs “Wohltemperiertes Klavier” das Alte und Beethovens Sonaten “das Neue Testament der Klaviermusik” darstellen (wie es Hans von Bülow einmal sagte), dann sind Chopins Werke die Quintessenz aus beiden. Nicht der Pariser Salonlöwe ist hier maßgebend, sondern der seelische Gehalt einer musikalischen Sprache, die gewisslich an der Zeit das Ihre einfach frei heraus sagt. Ringwaldt hätte vielleicht sogar seine Freude daran gehabt. Und wer weiß, was am Jüngsten Tag, erstaunt und womöglich benommen, von all diesen Vorgriffen aufrichtig bedacht und milde beurteilt wird…

2 Antworten

  1. Sehe oder höre ich Europa sträuben sich mir die Haare, ich würde mir wünschen, dass die EU alsbald vor die Hunde geht, aber immer mehr Länder lassen sich einwickeln und gegen den gesunden Menschenverstand, für eine Politik der Klimawahnsinnigen, Migratenimporteuere und Kriegsfreunde begeistern.

    Übergeordnete aber für mich noch immer unbeantwortet: Nach Kuba, Venezuela-Sowjetunion, DDR, nach geschilderter gleichen Richtung ins Verderben in Südamerika, Argentinien usw.: Weshalb sind Linke nach ersichtlich und erlebbar zerstörenden Ergebnissen durch Sozialismus mit teils saufrechen Tönen, mit Krawall-Demos nach wie vor für Viele wählbar? Ist Links nicht einfach nur loch leeres einziges Karriere-Konzept für Unbrauchbare? Rot – Partei der Verlierer und Zerstörer. Mehr nicht!!!

    Alle Linkswähler sollten diese Wahrheit vom totalen Scheitern des Sozialismus in Südamerika von Milei hören, und endlich nach dem Zusammenbruch dieser Ideologie in Europa begreifen, dass diese Idee nicht funktioniert!!!!

    1. Spricht da ein Mallorquiner? Oder Schumann? Oder Georges Sand? Was hat das – außer vielleicht mit der Liquidierung Kongreßpolens – mit diesem wunderbaren analytischen Liebesgeständnis zu tun? (Hat der Moderator sich so tief in die Musik versenkt, daß er den Kommentar ohne Bewußzsein freischaltete?)

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