
Es gibt in Deutschland zwei unendliche Ressourcen: Formulare und Gerechtigkeitslücken. Kaum hat man den „Gender Pay Gap“ zu einem Leitbegriff der Republik gestempelt, glühen die Etikettiergeräte in den Institutionen und in den Medien, die plötzlich überall “Gaps” entdecken und so dem Begriff “Lückenpresse” zu wörtlichen Ehren verhelfen: “Pension Gap”, “Care Gap”, “Time Gap”, “Wealth Gap”, “Digital Gap”. Die Gesellschaft erscheint als Schweizer Käse, und die Wissenschaft hält die Nase so lange über jedes Loch, bis es nach abgründiger Ungerechtigkeit riecht. Und nun verdanken wir dem Spartenkanal “ZDFinfo” auch noch eine weitere Lücke: den „Gender Sleep Gap“. Darum geht es: Frauen schlafen angeblich schlechter. Man könnte darüber lachen, wenn es nicht mit öffentlich-rechtlichem Ernst gemeint wäre – und wenn nicht aus jedem neuen Gap eine politisch-moralische Schuldenforderung stiege. Die Glossenregel lautet, an dieser Stelle einen zoologischen Vergleich zu bringen: „Der deutsche Diskurs als Hamster im Laufrad der Gleichstellung“. Aber das wird der Lage nicht gerecht, denn Hamster sind zufrieden, solange das Rad sich dreht. Unsere Gleichstellungsindustrie ist jedoch nur zufrieden, solange das Rad quietscht. Das Quietschen ist ihr selbstbestätigender Nachweis der eigenen Notwendigkeit. Wo Ruhe einkehren könnte, wo Unterschiede als Teil einer komplexen Wirklichkeit erscheinen, wird nachjustiert, neu vermessen, normiert. Ein Land, das keine Kathedralen mehr baut, baut stattdessen Kenngrößen.
Der Schlaf ist das letzte Refugium des Unverfügbaren. Man kann ihn nicht verordnen, nicht in ein EU-Lastenheft fassen und auch nicht bewusst erzwingen (es sei denn, man wacht tagelang). Gerade deshalb trifft die Idee vom „Gender Sleep Gap“ den Kern der Gegenwart: Was nicht in die Gleichung passt, wird passend gerechnet. Das Bett als Behörde. Der Traum als “Key Performance Indicator”. Der Wecker als Instrument struktureller Gerechtigkeit. Wer schläft hier eigentlich schlechter: Wirklich die Frauen – oder eher die (Un-)Kultur dieses Landes, die seit Jahren versucht, jede Differenz in ein Saldenspiel zu verwandeln?
Awareness-Workshops gegen patriarchale Schnarchmuster?
Natürlich gibt es Gründe für unterschiedliche Schlafqualität: Alter, Kinder, Trunkenheit, Schichtarbeit, Sattheit, Hormonhaushalt… der ganz gewöhnliche Lärm kaputter Zeiten. Aber der Reflex, jede beobachtbare Differenz sofort in einen politisch-moralischen Abgrund zu überfüh-ren, verrät mehr über unsere Herrschaftstechniker als über die Wirklichkeit. Wo früher eine Kultur ihre Asymmetrien aushielt und übersetzte – in Konvention, Tugend, gegenseitige Pflichten –, baut die heutige Verwaltungsidee an einem planetarischen Gleichstand, bei dem am Ende nicht Gleichheit, sondern Gleichgültigkeit herauskommt. Die Gaps, so heißt es, seien nur Namen für Missstände. Nein, im Gegenteil: Sie sind Maschinen zur Herstellung von Missständen. Erst benennt man eine Lücke, dann misst man sie, dann reglementiert man sie, dann lebt man von ihr. In den Ministerien, an den Lehrstühlen, in den Rundfunkanstalten, in geförderten Projekten so zahlreich wie Sand in der Sanduhr. Der Schlaf, zumal der weibliche, wird zur Ressource erklärt, also kann man ihn „heben“, „begünstigen“, „absichern“. Bald gibt es Förderlinien für geschlechtergerechte Matratzen, Awareness-Workshops gegen patriarchale Schnarchmuster, kommunale Leitfäden zur lärmarmen Männlichkeit zwischen 22 und 6 Uhr. Die Schlafsteuer folgt – selbstverständlich zweckgebunden.
Das Komische und zugleich Tragische liegt darin, dass die metaphysische Unruhe unserer Gesellschaft – ihr Verlust an Ordnung, Sinn, Bindung – in einem technischen Register bearbeitet wird. Man schläft schlecht, weil die Welt unruhig ist: weil Kinder keinen Vater mehr haben oder deren Autorität in Frage steht, weil Arbeit sich entgrenzt, weil Medien im Blaulichtmodus die Nacht durchleuchten, weil der Körper als Bastelmaterial gilt, weil das Gemeinwesen seine Rituale verlernt. Das wäre eine konservative Diagnose, also tabu. Stattdessen heißt es: „Frauen schlafen schlechter.“ Der Befund wird entkoppelt von der Kultur, angeschlossen an den Apparat – und in eine Excel-kompatible Ungleichheit verwandelt.
Kommt der “Gender Sunlight Gap”?
Man könnte auch anders herum fragen: Wer weckt hier eigentlich wen? Die Kulturkritik weckt den Schläfer namens Politik, der aus dem Traum von der absoluten Gleichheit nur ungern erwacht. Und der Medienapparat hält die Augen offen, damit ja keiner die Augen schließen darf, ohne vorher eine Ermächtigungsgrundlage zu unterschreiben. Schlaf – einst Gleichnis für Vertrauen – wird zum Verdachtsmoment: Wer gut schläft, hat vermutlich Privilegien. Wer schlecht schläft, hat Anspruch. Das moralische Konto führt sich künftig im REM-Rhythmus. Die Pointe ist absehbar: Wenn wir Unterschiede nicht mehr als Ausdruck verschiedener Lebenslagen, Entscheidungen, Temperamente und Pflichten denken dürfen, sondern ausschließlich als Ungerechtigkeitskonten, dann wird jede Differenz zu einer Reißleine für Politik. Die alte politische Weisheit, dass Gleichheit vor dem Gesetz mit Ungleichheit im Leben koexistieren muss, gilt nicht mehr. Man ersetzt sie durch Gleichheit durch das Gesetz – und wundert sich, dass am Ende niemand mehr schlafen kann. Zur Entspannung ein kleiner Ausblick auf drei potentielle Innovationen der Lückenökonomie, die noch fehlen:
- “Gender Silence Gap” – Warum Männer in Talkshows öfter unterbrechen, Frauen aber öfter unterbrochen werden und alle zu wenig schweigen.
- “Gender Sunlight Gap” – Wer hat das größere Fenster und bekommt mehr Vitamin D am Arbeitsplatz?
- “Gender Farewell Gap” – Wer verlässt zuerst die Party – und warum ist das strukturell?
Man mag das solange witzig finden, bis die Förderrichtlinie kommt. Dann ist Schluss mit lustig. Die Inflation der Gaps zerstört die politische Urteilskraft, weil sie das Ganze moralisch stückelt. Gesellschaft ist mehr als die Summe ihrer statistischen Asymmetrien. Sie ist ein Gefüge von Verantwortung und Freiheit, von natürlichen Unterschieden und kulturellen Ausgleichsmechanismen. Wer das nicht erträgt, flüchtet sich in Tabellen – und wacht eines Tages in einer Welt auf, in der das Schlafen politisch genehmigt werden muss. Vielleicht wäre der erste Schritt zu mehr Schlaf: Weniger Messung, mehr Maß. Weniger Gaps, mehr Gewissen. Und die Einsicht, dass Gerechtigkeit nicht dann beginnt, wenn alle dasselbe träumen, sondern wenn jeder in seinem Bett antwortlich liegt – für die Seinen, für die Ordnung. Wer darauf vertraut, schläft. Wer alles regulieren will, bleibt wach. Und kreiert die nächste Lücke.
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3 Antworten
Wenn schon hier von so vielen ,,gaps“ die Rede ist, hätte man durchaus auch den thigh gap erwähnen können Ein nicht negativ konnotierter gap.
Willkommen in Beklopptistan!
Man sollte mal den Gender-Logic-Gap thematisieren.
Auch der Gender-Responsibility-Gap wäre mal eine Betrachtung wert.