Kleine Helden des Alltags (VII): Erwin, der “Jockelesbur“

Kleine Helden des Alltags (VII): Erwin, der “Jockelesbur“

Erwin mit seiner Anna auf dem “Jockeleshof” (Foto:privat)

Erwin Willmann war ein ganz besonderer Mann. Das zeigte sich schon am Tag seiner Geburt: Er wurde am Heiligen Abend 1929 in einem kleinen Bauerndorf in der Nähe von Zell am Harmersbach im idyllischen Kinzigtal im Schwarzwald geboren. Dort wuchs er auf dem elterlichen “Jockeleshof” auf und entdeckte sehr früh seine tiefe Liebe zu den Tieren des Hofes, die bald zu “seinen” Tieren wurden. Seine ganz große Liebe war und blieb allerdings Anna, die am 20. Mai 1958 seine Frau und später die “Jockelesbäuerin“ wurde. Als er den Hof von seinem Vater übernahm, modernisierte er zuerst Teile der Infrastruktur: Im Backhaus wurde eine automatische Knetmaschine aufgestellt, damit seine Frau etwas Entlastung bekam.

Wir sprechen bei Erwins Jockeleshof von einem klassischen Schwarzwälder Bauerngehöft: Ein mächtiges, wuchtiges und sehr langgezogenes Gebäude, in dem nach vorn, zur Dorfstraße hin, die Wohn- und Schlafräume, die gute Stube, diverse Kammern und vor allem die riesige Küche untergebracht waren. Letztere war das “Sozialzentrum” des Hofes: Hier wurde verhandelt, Geschäfte abgeschlossen, ein kurzes informatives Schwätzchen beim Vorbeilaufen gehalten und die Schularbeiten der Kinder erledigt. Es gab eine Verbindung vom Küchenherd zur Räucherkammer in der Etage darüber, und so konnte Anna aus der Küche heraus Waren räuchern, ohne große Wege erledigen zu müssen (wenn geräuchert wurde, wurden in der Räucherkammer Klappen geöffnet). Und natürlich wurde hier auch “normal“ gekocht und gegessen.

Obstbrand und Honig vom Feinsten

Etwas weiter hinten in dem gestreckten Gebäudekomplex fanden sich die Ställe und der Scheunenbereich. Wie so häufig bei Schwarzwaldbauern bildete der gewaltige Dachboden einen Großteil des Scheunenkomplexes. Zum Jockeleshof gehörten Wald, Felder mit Obst, Gemüse und Getreide sowie eine Vielzahl an Tieren: Kühe, Schweine (die in einem eigenen Schweinestall hinter dem Backhaus untergebracht waren), Hühner, Kaninchen und weitere kleine Tiere wie Katzen für die Kinder und natürlich Mäuse.

Anna buk ihr eigenes Brot, das weit und breit als sensationell bekannt war. Im Backhaus stand auch die Destille für den Obstbrand. Erwin brannte dort Kirschwasser, Zwetschgenwasser, Mirabellenwasser, Obstwasser und das besondere “Roßlerwasser“. Der Roßler wurde aus Topinambur gebrannt – eine Spezialität des Kinzigtals; es gab auch Roßler mit Blutwurz und Haferpflaume. Dazu wurde auch noch “Moscht“ (Most, ein Obstwein) angesetzt. Erwin war zudem passionierter Imker und unterhielt viele Bienenvölker, den Honig schleuderte er in seinem Keller.

Der Jockeleshof war nahezu autark und bot eine Vielzahl an Köstlichkeiten, mit denen die ganze Umgebung versorgt wurde. Der Hof war nicht nur ein landwirtschaftlicher Betrieb, sondern auch ein sozialer Mittelpunkt der Region. Nachbarn und Freunde kamen regelmäßig vorbei, um frische Produkte zu kaufen oder einfach nur einen Plausch mit Anna und Erwin zu halten. Oft wurden sie mit einem Glas selbstgebrannten Obstbrand oder einer Scheibe frisch gebackenem Brot bewirtet.

Das Leben auf dem Jockeleshof folgte dem Rhythmus der Jahreszeiten. Im Frühling wurde gepflanzt und gesät, im Sommer gepflegt und geerntet. Der Herbst brachte die Obsternte und das Brennen der verschiedenen Schnäpse. Im Winter war es ruhiger, aber es gab immer noch genug zu tun: die Tiere mussten versorgt, das Brennholz vorbereitet und der Hof instand gehalten werden.

Ein besonderes Highlight des Jahres war das Hoffest, zu dem Freunde, Nachbarn und Verwandte eingeladen wurden. Es wurde gesungen, getanzt und natürlich gut gegessen und getrunken. Anna und Erwin waren großartige Gastgeber und ihre Gastfreundschaft war weithin bekannt. Die Gäste kamen von nah und fern, um an diesem besonderen Ereignis teilzunehmen. Es war eine Zeit des Zusammenkommens, des Feierns und des Genießens der Früchte der gemeinsamen Arbeit.

Die Kinder des Jockeleshofs, sowohl die eigenen als auch die der Nachbarn, wuchsen inmitten dieser Idylle auf. Sie lernten früh, mit anzupacken und die verschiedenen Tätigkeiten auf dem Hof zu schätzen. Ob beim Melken der Kühe, Füttern der Hühner oder Ernten der Früchte – jeder Tag brachte neue Aufgaben und Abenteuer. Besonders spannend war es, wenn Erwin die Destille anwarf und der Duft von frischem Obstbrand den Hof erfüllte.

Die Geschichten und Traditionen des Jockeleshofs wurden von Generation zu Generation weitergegeben. Anna erzählte oft von den alten Zeiten und den Veränderungen, die der Hof erlebt hatte. Erwin erklärte die Kunst des Imkerns und das Brennen des perfekten Schnapses. Diese Geschichten und das Wissen wurden zu einem wertvollen Erbe, das die Kinder und Enkel mit Stolz weiterführten.

Der Jockeleshof war mehr als nur ein Bauernhof; er war ein lebendiges Stück Geschichte, ein Ort der Gemeinschaft und ein Symbol für die Selbstversorgung und Unabhängigkeit. Die Vielfalt und Qualität der Produkte, die Anna und Erwin herstellten, waren ein Spiegelbild ihrer Hingabe und ihres Könnens. Ihre Lebensweise zeigte, dass es möglich war, im Einklang mit der Natur zu leben und dabei das Beste aus den vorhandenen Ressourcen zu machen.

Wir lernten Erwin Willmann Mitte der Siebziger Jahre im Urlaub kennen. Mein Vater und Erwin, die fast derselbe Geburtsjahrgang waren, verstanden sich auf Anhieb und schlossen Freundschaft. Da meine Mutter selbst praktisch auf einem Bauernhof groß geworden war, halfen wir auf dem Hof, wo wir konnten und wann immer Not am Mann war. Wir fütterten die Kühe, und einmal halfen wir aus, als auf den Feldern das Heu trocknete und ein Gewitter mit angekündigtem Starkregen kurz bevorstand. Die gesamte Familie von Erwin und Anna, alle sechs größeren Kinder, mussten mit anfassen (nur die kleine Claudia und meine Wenigkeit standen fast tatenlos dabei und klaubten nur etwas Heu mit den Händen für die Großen zusammen). Das ist auch der Einstieg für die Heldenleistung von Erwin: Denn der Jockelesbauer galt überall im Ort als besonders tierfreundlich.

Ein Leben für die “Viecher”

Als wir einmal unter enormen Zeitdruck “das Heu machen“ mussten, fand gleichzeitig im benachbarten Nordrach ein Rockkonzert statt. Einer der älteren Söhne von Erwin und Anna – damals gerade am Ende der Pubertät – wollten zu diesem Konzert, und das “Heu machen” stand ihnen dabei im Weg. Erwin jedoch dachte an seine Tiere – ein Rockkonzert war für ihn deshalb nicht wichtig. Sein Sohn maulte, woraufhin Erwin explodierte: “Himmel, Herrgott, Sakrament!” (Anmerkung: in einem Wort gesprochen!) “Denk an die Viecher und nicht an Deinen Veitstanz!” Und siehe da: Zwar mürrisch und voller Wut, aber doch fügsam und einlenkend half der Sohn bei der Heuernte.

Nach seiner Familie waren seine “Viecher“ – und nicht nur seine! – Erwins Ein und Alles. Er konnte fuchsteufelswild werden, wann immer Tiere gequält wurden oder ihnen Leid angetan wurde. Eines Tages war Erwin gerade auf seinem Weg in den Keller (der Zugang war von außen), als er mitbekam, wie ein Tourist auf der Dorfstraße mit seinem Auto einen Hund rammte und dann einfach weiterfuhr. Der Hund landete wimmernd am Straßenrand. DAS war einer der Momente, in denen Erwin blitzschnell handelte: Er rief über die Schulter einem seiner Söhne zu, dass er sich um den Hund kümmern solle, und lief dem Auto zu Fuß hinterher – in einer Geschwindigkeit, die man ihm nicht zutraute.

Tierliebe und Hausschlachtungen

Nach wenigen hundert Metern hatte der Wagenbesitzer etwas gemerkt und hielt an, um auszusteigen. Erwin gab ihm ohne Vorwarnung eine Ohrfeige und brüllte er ihn an, was ihm einfiele, ein Lebewesen anzufahren und dann nicht anzuhalten und nachzusehen. Die Sache ging einigermaßen glimpflich aus, denn das Auto war nicht allzu schnell gefahren und der Hund war zwar verängstigt, hatte aber außer einem Kratzer keine ernstzunehmende Verletzung davongetragen. Erwin nötigte den Autofahrer, den Hund bei dessen Besitzer, einem benachbarten Bauern, vorbeizubringen. Selten habe ich einen Menschen wie ihn getroffen, der alle Arten von Tieren liebte, sich leidenschaftlich für sie einsetzte und fantastisch mit ihnen umgehen konnte.

Wenn auf dem Jockeleshof geschlachtet wurde, gab es mit allen Beteiligten ein Schlachtessen. Ein einziges Mal war ich selbst dabei. Erwin – als Bauer und Gastgeber – sprach vor Beginn der Speisung ein kleines Gebet und dankte dem Tier mit dessen Namen, dass es der Hofgemeinschaft nun fürs nächste halbe Jahr als Speise diente. Ein paar Jahre später, bei einem der weiteren Besuche, habe ich ihn gefragt, wieso er die Tiere einerseits so liebt und sie andererseits auf seinem Hof schlachten lässt. Darauf gab er mir eine unfassbar kluge und weise Antwort, an der ich erkannte, dass er viele Jahre über diesen scheinbaren Widerspruch selbst sinniert haben musste: “Sieh mal: Das ist der Lauf der Dinge! Wenn wir Bauern keine Viecher mehr aufziehen, hegen und pflegen und ihr Fleisch nicht mehr genutzt wird, dann werden diese Viecher einfach gar nicht auf dieser schönen Welt sein – Auch wenn am Ende des Lebens – wie bei uns – der Tod steht, so können und sollen sie ein glückliches und zufriedenes Leben haben. Wenn wir Bauern keine Viecher mehr halten, dann werden sie zukünftig gar kein Leben haben!“ Ja, manchmal hatte Erwin etwas richtig Philosophisches an sich. Ich bin mir sicher, dass wir heute über erheblich weniger Skandale im Ernährungssektor reden würden, wenn es dort mehr verantwortliche Menschen wie Erwin Willmann gäbe.

Etwa Ende der Neunziger Jahre hat Erwin den Staffelstab an seinen Sohn Gebhard weitergegeben, der den Hof seither im Geist seines Vaters fortführt. Anfangs stand Erwin noch wie eh und je selbst auf dem Hofe, zog sich dann aber mehr und mehr zurück. Im Sommer 2014 ist er friedlich entschlafen. Seine Anna ist ihm ein paar Jahre später gefolgt. Seine lebenslange Heldenleistung für die Tiere und für sein Streben nach Unabhängigkeit – beides auf der Basis seiner Bodenständigkeit (Anna und Erwin haben ihr geliebtes Kinzigtal praktisch Zeit ihres Lebens nur einmal verlassen, als nämlich Erwin den Hof an die nächste Generation übergeben hatten und bei unsere Familie in Goslar für einige Tage besuchten) – hat den Jockeleshof stark geprägt und macht ihn bis heute zu etwas ganz Besonderem.

Erwin auf dem Altenteil, nach der Hofübergabe an seinen Sohn (Foto:privat)

2 Antworten

  1. Schlachteplatten in Schwarzwald und Elsaß sind göttlich, gerade unlängst in Straßburg Choucroute gegessen … hoffentlich bleibt von dieser guten alten Zeit noch etwas erhalten, aber gut sich zu erinnern, was bodenständig heißt …. 😁😍😘😘😘😃

  2. Wirklich ein sehr schöner Artikel.
    Das mit den Tieren sehe ich auch so. Ich hielt mal Kaninchen, Kumpel hatte auch welche.
    Am Schlachtetag nahmen wir zunächst paar “Kurze” ein, quasi Mutantrinken, dann wurde das “Opfer” noch beruhigend gestreichelt, dann das Bolzenschußgerät angelegt.
    Nachher tauschten wir dann die Erträge unser Form der Landwirtschaft, eigenen Liebling hätte ich nicht essen mögen.
    Darum hatte ich Kaninchen auch nie als Braten gemocht, immer als Frikassee – sehr lecker und empfehlenswert – was den Vorteil hatte, daß die Mahlzeit nicht so nach Willi, Rudi Rammler oder Elfriede ausgesehen hatte.

    1
    1