Mein damals schon vernichtendes Gesamturteil über die Polizeimissionen in Afghanistan lautete: Unterbesetzt, unterfinanziert, fehlender Masterplan, fehlende Exit-Strategien, schwach strukturiert („designed„) und ungenügende Koordination in der technischen Unterstützung. Mein vorsichtiges, rückblickend aber immer noch zu optimistisches Fazit: Dauerte es schon eine Dekade, um eine halbwegs vernünftige Sicherheitsarchitektur auf EU-Ebene zu installieren und eine weitere, um dort die internationale Zusammenarbeit besser zu strukturieren, dann wird es erstrecht noch viele Dekaden dauern, um eine umfassende globale Sicherheitsarchitektur zu errichten – und eine wirklich weltweit koordinierte Zusammenarbeit zur Bekämpfung von islamistischem Terror in all seinen schon damals diversen Provenienzen (schiitisch, sunnitisch, sonstige…) und weltweit installierten Filialen und Allianzen und Provinzen, sowie der damit verbundenen organisierten Kriminalität, zu erzielen.
Noch drastischer fiel 2009 meine spezifische Lageanalyse als Key Speaker des Europäischen Polizeikongresses aus (Titel: „Focal Point Afghanistan – lessons learned„). Ein paar wenige Beispiele: Schon damals waren 10 bis 15 von 34 afghanischen Provinzen unter permanent presence der Taliban, d.h. dass ein oder mehrere Anschläge pro Woche verübt wurden; 72 Prozent der Provinzen standen unter substantial presence, d.h. mindestens ein Anschlag wurde pro Monat verübt. Dieses Machtgefälle konnte auch in der folgenden Dekade nicht gestoppt werden, sondern es wuchs und stabilisierte sich im Gegenteil Jahr für Jahr.
Als im deutschen Bundestag Lobeshymnen auf die deutsch-afghanischen Schulprojekte („Erfolge im Bildungssektor„) gesungen wurden, weil gerade mal ein paar Schulen gebaut und Mädchenklassen eingerichtet wurden, waren im gleichen Zeitraum von der Taliban über 650 Schulen zerstört, 141 Lehrer und Schüler getötet und über 173.000 Schüler vertrieben worden. Dieser Druck auf den Bildungssektor wurde auch in den folgenden Jahren aufrechterhalten. Die Folge: Ein weiterhin dramatischer Analphabetismus, der noch heute bei durchschnittlich rund 60 Prozent der afghanischen Bevölkerung liegt – „Erfolge im Bildungssektor“ sollten nach zwei Jahrzehnten anders aussehen.
Lobeshymnen im Bundestag
Schlafmohnanbau und Drogenproduktion – vor allem Opiate – waren aufgrund der rigiden Anti-Drogen-Politik der Taliban 2001 fast zum Erliegen gekommen. Innerhalb weniger Jahre wuchsen danach jedoch die Anbauflächen auf fast das Dreifache rasant an – trotz der immer häufigeren (und verlustvollen) Einsätzen spezieller Drogenvernichtungseinheiten (Poppy Eradication Forces, PEF) der Regierung. Afghanistan wurde zum Hauptlieferant für Opium – und beherrscht inzwischen bis zu 95 Prozent des Welthandels. Zum Vergleich: 2001, vor der westlichen Invasion, waren es 5 Prozent). Zudem wurde der Anbau von Cannabis vor allem im Nordwesten des Landes forciert betrieben; für Afghanistan Anfang der 2000er ein Novum. Bis 2017 stieg die Drogenproduktion um über 60 Prozent. Heute stehen wir einer gigantischen Drogenindustrie gegenüber, die der Taliban Milliardengewinne verschafft und die westliche Welt vor schier unlösbare Probleme stellt.
Die militärische Ausstattung der Taliban war seit vielen Jahren zumindest befriedigend bis gut – dank Unterstützung vieler Staaten, fortwährender Überläufer, die ihre Ausrüstung mitbrachten und ständiger Eroberung militärischer Lager und Posten. Erst mit dem Abzug der Amerikaner am 30. August 2021 aber gab es für sie echten Anlass zu feiern: Der terroristische Fuhrpark wuchs innerhalb wenigen Wochen um über 23.130 Panzer und gepanzerte Fahrzeuge sowie um rund 40.000 Trucks und SUVs. Die den Taliban in die Hände gefallenen Waffenarsenale sind proppenvoll mit fast 425.000 Sturm- und Maschinengewehren, 126.000 Faustfeuerwaffen und 176 Artilleriegeschützen; 162.000 Funkgeräte, 16.000 Nachtsichtgeräte, rund 100 Militärhubschrauber und 65 Militär- und Transportflugzeuge konnten zum größten Teil kampflos erbeutet werden.
Noch viele andere und namhaftere Experten hatten sich im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte – und natürlich aktuell – kritisch mit der deutschen, der europäischen, der amerikanischen oder der internationalen Afghanistan-Politik auseinandergesetzt; weit besser als viele der Bundestagsabgeordneten, die regelmäßig die Verlängerung der Bundeswehr-Mandate abnickten. Die Fülle der Berichte, Meldungen, Analysen, Interviews oder Video-Statements ist schlicht überwältigend. Vielleicht hätte es genügt, einfach mal wieder ein Buch des deutsch-französischen Journalisten und Publizisten – sowie ehemaligen Soldaten – Peter Scholl-Latour zu lesen? Das gilt auch heute noch – und wäre meine Empfehlung zumindest an die Herren Maas und Seehofer.
Dringende Leseempfehlung: Scholl-Latour
Aktuell bleibt die Frage: Wie konnten (angeblich) rund 85.000 Taliban (angeblich) über 300.000 top-ausgebildete afghanische Sicherheitskräfte, davon über 180.000 tatsächlich bestens ausgestattete Militär- und Luftwaffeneinheiten (ANA/AAF), derart leicht „besiegen“ und noch die gesamte Ausrüstung einsacken? Ohne völkerrechtlichen Schutz (das Doha-„Friedens“-Abkommen sah keinen Schutz afghanischer Militäreinrichtungen vor), mit einer korrupten, unglaubwürdigen Regierung, mit extrem mangelhafter afghanischer Militärführung (Bestechlichkeit, erhebliche Munitions- und Ausstattungsmängel, kein Sold, keine Verpflegung!), ohne US-Luftunterstützung/-Militärdienstleister, ohne Unterstützung und tatkräftige Mithilfe der Bevölkerung dieses Vielvölkerstaats aus Paschtunen, Belutschen, Tadschiken, Turkmenen, Hazara und weiteren (vor allem wegen der verheerenden Zivilopfer bei US-Luftangriffen), mit einer hohen Neigung zu Desertion und/oder Verrat, ohne Kampfwillen bzw. einer durchgängigen Bereitschaft zur Kapitulation und vor allem: ohne die grundsätzliche Akzeptanz einer Taliban-Regierung – besonders im ländlichen Bereich – ginge dies eigentlich gar nicht.
Man darf zudem nicht vergessen: Die Quetta Shura Taliban (QST), die jetzt mit der neuen Regierung Realität wurde, erfuhr bereits im Frühjahr 2020 – mit Beginn der Friedensverhandlungen in Paris und Doha – ihre erste Legitimation von den USA; ihre vorläufig letzte folgte mit der Eroberung Kabuls nach der Flucht des Präsidenten mit Koffern voll Bargeld und der Errichtung der Übergangsregierung. Selbst die 6.000 Mann starke Truppe unter Führung des Tadschiken Ahmad Sha Massoud, der bis zuletzt das Pandschir-Tal gegen die paschtunischen Taliban zu verteidigen suchte, ergab sich, nachdem auch dessen basarmäßiges Feilschen um Machtbeteiligung – erst 50 Prozent, dann 30 Prozent – erfolglos geblieben war. Das alte afghanische Spiel „Ich will Kalif sein anstelle des Kalifen“ ging in seinem Fall nicht auf.
Haibatullah Akhundzada, seit 2016 mysteriöser Führer der Taliban, seit Jahren fast „unsichtbar“, weil von ihm nur ein einziges Foto existierte, übernahm nun die Führung, gründete den islamischen Gottesstaat Afghanistan – und besetzte zwischenzeitlich die 33 Ministerposten seiner Regierung ausschließlich mit Männern, fast alle paschtunische Taliban, darunter der weltweit mit Haftbefehl gesuchte neue Innenminister Terrorist Siradschuddin Hakkani (aka: Haqqani), der als Terrorist auf der US-Fahndungsliste des FBI steht und auf den ein Kopfgeld von bis zu 10 Millionen USD ausgelobt ist. Soviel zum Thema „vertraglich zugesicherte, friedliche Inklusion„.
Geopolitische Verschiebungen
Viel Spaß, Herr Maas – oder wie immer unser(e) künftige Außenministerdarsteller(in) auch heißen mag – bei den künftigen Verhandlungen mit der Terrorregierung über die Rückführung der 300 (oder 10.000?) „Schutzbedürftigen“ und ihrer Angehörigen, sowie über die Abschiebungsregelungen krimineller Afghanen. Über die restlichen 30.000 schutzbedürftigen Afghanen, die schon jetzt im US-verbündeten Ausland – insbesondere nach wie vor zahlreich auf dem US-Stützpunkt in Ramstein – notdürftig untergebracht sind, dürfen sich dann andere (vor allem Deutschland) Gedanken machen. Vor allem über die Masse derer, die nach der „Rosinenpickerei“ der USA, nach der gezielten Weiterverbringung der wenigen Fachkräfte und Akademiker, übrigbleiben werden.
Nun ist es auch an Pakistan, besorgt nach Westen zu schauen – denn im pakistanischen Grenzgebiet leben fast 23 Millionen Paschtunen, die sich, wenn sie sich mit den 15 Millionen afghanischen Paschtunen zusammentäten, eine geopolitisch hochbrisante Macht darstellen würden. Der pakistanische Geheimdienst, der über viele Jahre die afghanische Taliban aufbauen half und unterstützte, sieht sich jetzt in einer ähnlichen Lage wie einst die USA nach dem Rückzug der russischen Besatzungskräfte: Der Bumerang der Terrorunterstützung kehrt zurück, trifft den Werfer selbst.
Außenpolitisch ist der Weg vorgezeichnet: Aus Angst vor der zu erwartenden Flüchtlingswelle signalisieren westliche Führungen Gesprächsbereitschaft mit den Taliban (die ihrerseits dafür volle Geldkoffer und politische Anerkennung erwarten), während Chinas Außenminister Wang Yi schon vor Wochen den talibanischen „Außenminister“ Abdul Ghani Baradar zu Konsultationen empfing und Russland bereits langfristige Projekte mit den Taliban plant und betreibt.
Außenpolitisch ist der Weg vorgezeichnet
Die Taliban haben damit erneut unter Beweis gestellt, dass sie es mit jeder Großmacht aufnehmen können. Sie haben aber darüber hinaus der islamischen Welt demonstrativ bewiesen, dass der Dschihad zu gewinnen ist, dass ihr System und ihre Werte langfristig Bestand haben – und sie signalisieren unmissverständlich: Nach Kabul kommt Rom, das erklärte Ziel aller islamischen Terrorgruppen und Bewegungen! 700 Jahre sind für wahre Dschihadisten keine unendliche Dimension. Und das ausgerechnet kurz vor dem 20. Jahrestag der Al-Qaida-Anschläge. Wenn das kein globaler dschihadistischer Weckruf ist!
Es steht zu befürchten, dass jegliches diplomatische Entgegenkommen zugunsten der Taliban nur folgende Zwecke haben wird: Im Ausland fixierte Finanzmittel frei zu machen und neue Finanzmittel zu erschließen, etwa durch Rohstoffe und /Fördermittel; Zeit zu gewinnen, um internationale Akzeptanz zu erlangen und auf nationaler Ebene eine Art staatliche, föderale Exekutive zu errichten bzw. diese zu stabilisieren; nach der Befreiung tausender Gefangener der Taliban und des Terrornetzwerks Al-Qaida aus den afghanischen Gefängnissen nun auch die inhaftierten Kampfgefährten im Ausland – unter anderem über die Verhandlungen zu Rückführungen westlicher Staatsangehöriger und „Ortshelfer“ – freizupressen; eigene Kader in die Flüchtlingsströme zu integrieren, um im Ausland stabile Terrorzellen zu bilden, speziell um den terroristischen Dschihad nach Europa zu tragen; die längst heimlich beschlossene und jetzt erneut betriebene Wiedervereinigung von Taliban und Al-Qaida zu vertiefen; sich mit der pakistanischen Taliban-Version TTP (Tehrik-i-Taliban Pakistan) zu vereinen – und evtl. sogar zu einer Kooperation mit der Daesh-Provinz ISK (Islamic State of Khorasan) zu kommen, die sich bekanntlich unverzüglich zu den blutigen Anschlägen am Flughafen von Kabul bekannte und damit im afghanischen Terrorquartett unmissverständlich positionieren konnte .
Bleibt die Frage nach der Verantwortung für dieses epochale Desaster. Zumindest dieses aufzuarbeiten sei „eine Frage der Ehre„, meinte Oberstleutnant André Wüstner, der Vorsitzende des Deutschen Bundeswehrverbandes, in einer Talkshow. Meines Erachtens geht dies nicht weit genug; es stellt sich hier auch die Frage der Strafverfolgung der handelnden staatlichen Akteure, deren Untätigkeit oder Unfähigkeit Leib oder Leben kostete und noch kosten wird.
-Ende-
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Eine Antwort
Soweit ich informiert bin, befanden sich Ende August 2021 nur noch rund 500 US-Soldaten in Afghanistan. Der größte Teil des US-Militärs samt Ortskräften soll zu diesem Zeitpunkt bereits in die USA zurückgekehrt gewesen sein. Aus welchem Grund wurde Kriegsgerät im Wert von immerhin 83 Milliarden Dollar nicht ebenfalls bis Ende August zum größten Teil abgezogen? Sollte damit die afghanische Armee ausgestattet werden, deren Unzuverlässigkeit den USA bekannt gewesen sein muß? Oder hatten die eigentlichen Herren über die USA andere Pläne und wollten absichtlich islamistische Radikale für deren geplanten Kampf gegen „Rom“/den Westen aufrüsten? Das Prinzip dieser eigentlichen Herren über die USA lautet nicht umsonst „Ordnung aus dem Chaos“. Wenn ich die Dinge richtig sehe, werden derzeit weltweit alte Konflikte geschürt und neue geschaffen. Offenbar streben diese Kreise mit Macht den 3. Weltkrieg an, um anschließend, wenn alles darniederliegt, weltweit die politische Macht an sich zu reißen. Eine andere Erklärung habe ich für den Irrsinn, der sich seit dem Sommer im Hinblick auf Afghanistan abspielt, nicht.