Vom Anfangspunkt ins Heute

Vom Anfangspunkt ins Heute

Magie des Augenblicks: Mythische Verbundenheit mit den Ursprüngen der Menschheit (Foto:privat)

Der Herbst und die beginnende Zeit der kommenden Dunkelheit sind für mich stets eine Zeit der Retrospektive und inneren Schau. Aus diesem Prozess der Einkehr und Selbstreflexion treten bisweilen Fundstücke zutage, die es möglicherweise wert sind, geteilt zu werden. Daher das obige Beitragsfoto nebst einigen zugehörigen Gedanken. Es ist zunächst einmal ganz offensichtlich banales Badebild, auf welches ich weiter unten noch einmal zu sprechen komme. Entstanden ist es vor ziemlich genau einem Jahrzehnt, am 9. Oktober 2014, am tiefsten Punkt des äthiopischen Rift Valleys, des Großen Afrikanischen Grabenbruchs – der Wiege der Menschheit. Einer der für mich wichtigsten Momente meines Lebens auf einer der beeindruckendsten Reisen, die mir je zuteil wurden. Gemeinsam mit Afrika-erfahrenen Freunden verbrachten wir damals eine intensive Zeit, die uns quer durch Äthiopien und Tansania führte. Für mich erfüllte sich damit ein lang gehegter Traum, endlich einen Teil jener Plätze hautnah zu erleben, die angemessen zu beschreiben alle Bücher, Filme oder Fotografien nie jemals imstande waren – und es zukünftig auch nie zu sein vermögen.

Gelandet in Arba Minch, auf einer schmalen, zerlöcherten Asphaltpiste. Die Propeller der kleinen Maschine kommen in der feuchtwarmen Oktoberluft, die nichts vom europäischen Oktober hat, zum Stehen. Über Schlammpisten geht es zur Unterkunft; kurz darauf stehe ich an der Abbruchkante des Rifts, jenem wohl längsten Tal unseres Planeten – und schaue sprachlos und gebannt über endlose, dschungelbedeckte Weiten und Horizonte, die sich im Dunst der Ferne verlieren. Die beiden riesigen Seen Chamo and Abaya spiegeln das letzte Sonnenlicht dieses Tages, während die Stimmen und Geräusche des Urwaldes die kommende Dunkelheit einleiten. Bis in die tiefe Nacht sitze ich unter dem Sternhimmel und lausche in völliger Faszination den Geräuschen einer geheimnisvollen, archaischen Welt.

Hier schließt sich ein Kreis

Arba Minch bedeutet auf Amharisch – der uralten, hiesigen Sprache – „Vierzig Quellen“. Die Siedlung liegt an der Basis der Westseite des Great Rift Valleys. Diese gigantische Schlucht zieht sich über eine Länge von fast 6.000 Kilometern vom nördlichen Jordantal über das hiesige Afar-Dreieck in Äthiopien, zur Oldupai-Schlucht in Tansania bis hinunter in den Süden Moçambiques. Zwischen 30 und 100 Kilometer breit ist das Tal – und wenige hundert bis mehrere tausend Meter tief. Es gibt nichts Vergleichbares auf der Erde. Als 1974 der Paläoanthropologe Donald Johanson im äthiopischen Rift Valley das überaus gut erhaltene Skelett eines 3,18 Millionen Jahre alten Hominoiden-Mädchens fand, erweiterte sich quasi über Nacht unser Verständnis über unsere Herkunft als Spezies. Vor jenen „Lucy“ genannten Überresten, aus denen sich nach heutigem Stand der Forschung die Gattung Homo entwickelte, der wir uns als „Homo sapiens“ zuordnen, hatte ich erst wenige Tage zuvor im Nationalmuseum in Addis Abeba gestanden.

Nun war ich also tatsächlich da, wo alles begann. Hinabgestiegen in die riesige Schlucht, dort, wo das Wasser vulkanwarm aus der uralten Erde sprudelt, wo der Dschungel möglicherweise so aussieht und sich so anfühlt wie vor 3 Millionen Jahren. Hier, wo die Erdkruste (in für uns Eintagsfliegen wie in Zeitlupe anmutendem Tempo) aufreißt; wo die Afrikanische und die Arabische Platte auseinanderdriften; wo die großen Vulkane des Kilimanjaro und das Kraterhochland in Tansania entstanden – und wo sich in 10 oder 20 Millionen Jahren Ost- und Westafrika voneinander trennen werden, wenn das Rote Meer schließlich in dieses gewaltige Tal vordringen und es fluten wird. Noch heute baden die Kinder der Dörfer hier, unter den schützenden Ästen der Bäume, umgeben von den Stimmen des Urwaldes. Ich beobachte sie eine Weile – und dann, wie aus Instinkt und ohne Nachzudenken – lege ich all meine Sachen ab und steige, unter den neugierig-faszinierten Augen zweier, kleiner, heimischer Jungs, in das warme Wasser. Irgendwie schließt sich hier ein Kreis – und jenes tiefe, überwältigende Gefühl von Unendlichkeit und Ewigkeit läßt sich in keinem Text und keinem Bild der Welt vermitteln.

Schritt für Schritt etwas Neues

Möglicherweise lag irgendwo hier unser einziges Zuhause, für hunderttausende Jahre – bis eine kleine Handvoll neugieriger Hominiden beschloss, loszuwandern und herauszufinden, was hinter dem großen See, hinter den Bergen, hinter dem Meer, am anderen Ufer lag. Und diesen Kontinent für immer verließ. Alles, was uns zu den Menschen macht, die wir heute sind, entstammt der damaligen Neugier und dem Drang nach Wissen. Alles, was uns zu den Menschen macht, die wir heute sind, entstand aus einem einzigen Prozent Unterschied in der DNA, die uns von Schimpansen unterscheidet. Das ist einer der faszinierendsten Gedanken unseres Daseins.

Die frühen Europäer waren möglicherweise bereits Menschen wie du und ich. Welchen Herausforderungen sie gegenüberstanden, ist heute kaum zu ermessen, kaum angemessen zu würdigen. Sie trafen auf archaische Neandertaler – und es entstand langsam, Schritt für Schritt, Generation für Generation, etwas Neues. Noch heute tragen wir 1 bis 3 Prozent Neandertaler-DNA in unseren Genen. Wir schafften es durch die Eiszeit – mit Vorausdenken, Vorratswirtschaft, Werkzeugen, Feuer und Kälteschutz. Weil wir anpassungsfähig waren, innovativ, zäh und unbeugsam. Das zeichnet uns aus. „Intelligenz ist die Fähigkeit, sich an Veränderung anzupassen“, sagte Stephen Hawking einst. Wir sind die Nachkommen dieser wenigen, neugierigen Wanderer. Hunderttausende Jahre sind vergangen. Gewiß: Längst ist nicht alles perfekt, friedlich, ausgewogen oder optimal. Aber während woanders fast alles beim „Alten“ geblieben ist, sind wir heute mit unseren Schiffen auf dem Weg in den interplanetaren Raum. Wir haben faszinierende Dinge gebaut. Wir sind weit gekommen. Vielleicht ist es ja doch okay, darauf ein wenig stolz zu sein?

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