Vor 42 Jahren…

Vor 42 Jahren…

1982, als Politikwechsel noch nicht als antidemokratisch galten: Helmut Schmidt gratuliert nach erfolgreichem Misstrauensvotum seinem Nachfolger Helmut Kohl (Foto:Bundesarchiv)

Bundestagsdebatten per Rundfunkapparat oder TV-Gerät zu verfolgen war damals, im Herbst 1982 weit verbreitet, ohne dass der Unterhaltungsfaktor zu kurz kommen musste. Als Klassiker galten die Rededuelle zwischen Bundeskanzler Helmut Schmidt und dem CSU-Vorsitzenden Franz-Josef Strauß, vom brummeligen SPD-Solisten Herbert Wehner („Sie Diffeldoffel, Sie“) oder der feinen FDP. -Dame Hildegard Hamm-Brücher gar nicht erst zu reden. Einen schweren rhetorischen Stand hingegen hatte CDU-Chef Helmut Kohl; wir bemitleideten ihn wegen seiner monotonen Stimmlage, die Langeweile verbreitete, sowie aufgrund seines angelernt wirkenden unschuldbeteuernden Augenaufschlags hinter der biederen Kassenbrille.

Noch morgens, am entscheidenden Tag sollen FDP -Abgeordnete bei der CDU/CSU-Fraktion angefragt haben, ob man nicht eine andere Person als Schmidt-Nachfolger benennen könne … Aber an dem Machtmenschen aus Oggersheim führte nun, nach bereits neun Jahren Parteivorsitz und seinem guten Abschneiden bei der Wahl ’76 ,kein Weg mehr vorbei. Ich kauerte mich in eine Sofaecke, wie betäubt allein von der bloßen Vorstellung, am Abend dieses Fernsehtages keinen Kanzler Schmidt mehr zu haben. Allzu lebendig stand mir noch das Foto vom tränenüberströmten Willy Brandt im Mai 1974 vor dem erinnernden Auge: nach den Intrigen von Onkel Herbert und dessen in Moskau geäußertem Satz, der Kanzler bade gern lau, war die Enttarnung des Beraters Guillaume als DDR-Spion nur der letzte Anlass gewesen, die Spitze im Palais Schaumburg auszutauschen. Und jetzt, gut acht Jahre später, sollte ich erneut umlernen und mich umstellen müssen auf einen anderen Mann im mittlerweile neugebauten Kanzleramt?

Nicht die Spur einer Träne

Mir wollte nicht einleuchten, was man gegen den energischen, sprachgewandten, sachorientierten, scharfsinnigen und zugleich musisch geprägten Abgeordneten „Schmidt-Bergedorf“ in seiner weltweit angesehenen Regierungsführung ernsthaft einwenden könnte. Im direkten Gegensatz zu ihm wirkte Kohl eigentümlich tumb, kolossal-unbeholfen – aber eben auch verschlagen und unberechenbar, trotz oder gerade wegen dieses notorischen äuglichen Plinkerns. Junge, feingliedrige Menschen (ich zum Beispiel war schlank und 16 Jahre alt) empfanden diese massige barocke Erscheinung als Zumutung mit Tendenz zur Bedrohung. Mit solch einem Typen allein in einem Raum würde man selbst völlig wehrlos an die Wand gedrückt werden … dachte ich so bei mir. Doch solche reinmenschlichen Erwägungen spielten selbstredend keine Rolle.

Hatte nicht unser analytisch unbestechlicher Geneinschaftskundelehrer Mitte September uns Elftklässler darauf hingewiesen, dass ökonomische Gründe einen Politikwechsel unausweichlich machten? Und in Bezug auf den vom Kanzler maßgeblich mitinitiierten NATO-Doppelbeschluss von 1979 sagte er uns frank und frei: „Schmidt ist leider in der falschen Partei.“ An jenem Freitag, dem 1. Oktober 1982 im Bundeshaus zu Bonn am Rhein, wurde dann in der Tat Helmut Kohl, wie allgemein erwartet, durch ein konstruktives Misstrauensvotum zum Kanzler gemacht. Helmut Schmidt gehörte zu den ersten Gratulanten, mit knappem Handschlag und strähnenweise heruntergefallener Haartolle, derangiert und erschöpft wirkend. Aber nicht die Spur einer Träne: Bis zuletzt ganz das Gegenteil vom 1972er-Star der „Willy-Wahl“, der nur anderthalb Jahre später so tief fiel.

Die “geistig-moralische Wende”

Nun also der andere vom „doppelten Helmut“ (wie es im Blick auf den 1976er Bundestagswahlkampf der “Stern” formuliert hatte) – und, so ergänze ich, die andere der doppelten Hannelore. Mehr als die Namensgleichheit der sich ablösenden Kanzlerehepaare schien es an Gemeinsamkeiten aber nicht zu geben. Ab nun warteten wir gespannt darauf, was die in Aussicht gestellte „geistig-moralische Wende“ denn inhaltlich bieten würde. Das böse Wort von der „Wenderegierung“ traf in erster Linie die Partei mit den drei Pünktchen, die ja hauptverantwortlich zeichnete für Schmidts Sturz. Hans-Dietrich Genscher, Wolfgang Mischnick und Otto Graf Lambsdorff traf unser innerer Bannstrahl, aber es half ja nichts: Diese Politiker waren bald wieder obenauf und bekleideten hohe Ämter wie zu Zeiten der sozialliberalen Koalition.

Seitdem sind über vier Jahrzehnte ins Land gegangen. Sieben Jahre nach jenem schwarzen Freitag 1982 lag die DDR in ihren letzten Zügen, es folgten Mauerfall, Währungsunion und Wiedervereinigung. Was die Regierungen Brandt und Schmidt mit ihrer einst von Strauß und Kohl brutalstmöglich angefeindeten Ostpolitik begonnen hatten, konnte sich der pfälzische „Schwarze Riese“ nun selbstzufrieden an sein eigenes Revers heften. In der Rückschau wird klar: Kohl und Genscher ließen bei ihrer „Wende“ die durch Willy Brandt und Walter Scheel begründete neue Deutschlandpolitik außen vor. Sie führten nämlich den seit 1965 vom SPD-Politiker Egon Bahr angemahnten und ab 1969 durch die SPD/FDP-Bundesregierung ins Werk gesetzten „Wandel durch Annäherung“ einfach weiter; “Genschman” sei Dank – auch wenn Helmut Schmidt mir wegen dieses Ausrufs nun aus seinem mit Zigaretten von trauernden Gleichgesinnten dekorierten Grab heraus zürnen sollte; immerhin blieb der Daueraußenminister (Dienstzeit 1974 bis 1991) der einzige von den 1982er-Verschwörern, dem der beste Kanzler, den wir je hatten, sein unkollegiales Verhalten niemals verziehen hat.

Zu artig, angestrengt und ideologiebesessen

Der FDP war der Fahnenwechsel von vor 42 Jahren nicht wirklich abträglich. Nach der vorgezogenen Bundestagswahl vom 6. März 1983 richtete sie sich gemütlich in der Regierungskoalition mit den Unionsparteien ein und blieb darin bis zum Ende im Jahr 1998. Doch da herrschten schon andere Zeiten und Orte: Das Bundeshaus an der Rheinpromenade beherbergte längst nicht mehr das Parlament. Der Bundestag war auf dem Sprung aus seinem neuen kreisrunden Glashaus, nach einer mehrjährigen Zwischenstation im ehemaligen Bonner Wasserwerk, ins Berliner Reichstagsgebäude.

Die Rededuelle im schwarzmöblierten Saal mit den hellen Nägeln, ein Charakteristikum der bundesdeutschen Nachkriegszeit, gehörten bereits kurz vor der Jahrtausendwende einer legendären Vergangenheit an. Irgendwann waren dann auch die drei Pünktchen der Liberalen verschwunden. Der Rest der Geschichte ist bekannt. Jedenfalls bannt mich heute nichts mehr in solch einer Weise in eine Sofaecke samt Medienapparatur, wie es damals, 1982, der Fall war: Unsere Volksvertreterinnen und Volksvertreter im Hohen Hause sprechen mir zu artig und vielfach auch zu angestrengt, um nicht zu sagen: zu ideologiebesessen. Wann weichen endlich einmal wieder die Buchstaben zugunsten eines freien Geistes?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert