Samstag, 27. April 2024
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Dresdner Nostalgie: “Das Kaufhaus”

Dresdner Nostalgie: “Das Kaufhaus”

Das “Günther” in den 1960ern (Foto:Archiv/privat)

Wenn Dresdner in der Vorweihnachtszeit dem Wort “Kaufhaus” begegnen, werden nicht wenige eine spezielle Assoziation haben; eine, die weder mit den einschlägigen Konsumtempeln der bundesrepublikanischen Wirklichkeit noch dem ehemaligen “Centrum Warenhaus” des real existierenden Sozialismus zu tun hat. Das heimliche Karstadt der sächsischen Hauptstadt der Sechziger, Siebziger und frühen Achtziger hieß “Günther” und lag am östlichen Stadtrand an einer lebhaften Ausfallstraße. Da wo die Waschbetonerzeugnisse der Serie WBS70 endeten, die Behausungen besonders niedrig und besonders ärmlich ausfielen. Drumherum fanden sich noch ein paar Läden, ein Eisstand, die einsame “Hutecke Rehak” mit den schmalen Öffnungszeiten. Nichts allenthalben, was dem Platzhirsch in die Quere kommen konnte.

Hinter dem zwar großen, aber auf den ersten Blick doch unscheinbaren Gebäude mit den seitlichen Anbauten begannen Plantagen, Kleingärten, eine Kiesgrube. Dinge, die erst im Frühsommer interessant wurden. Im Winter verließ man den röhrenden Ikarus, mit dem vom Diesel geschwärzten Heck jedenfalls an der unmittelbar vor dem Haupteingang gelegenen Bushaltestelle – des Stöberns und Erwerbs wegen, oder einfach nur um sich sattzusehen.

Offene Wunden, auch nach der Wende nicht geheilt

Das bereits 1902 eröffnete Handelshaus wurde bis zu seiner Schließung 2007 von der Familie Günther/Metzig als private offene Handelsgesellschaft (OHG) betrieben, was nach außen hin mit einem riesigen Schriftzug dokumentiert wurde. Der Name prangte in goldenen Lettern über dem Mittelteil mit den neun riesigen Fenstern in drei Hauptgeschossen. Die herrschende Einheitspartei kompensierte das allzu selbstbewusste Erscheinungsbild des privaten Relikts, indem sie die Schauseite schon zeitig dem ortsüblichen Verfall preisgab

Ob dem Gebäude überhaupt je ein Farbanstrich zuteil wurde, ist unklar. Ich kenne nur den graubräunlichen Glattputz, der zeitlebens vor sich hin alterte, bis er schließlich in deutlich sichtbaren Teilen auf den Gehweg fiel und häßliche Altersflecken im Antlitz hinterließ. Die offenen Wunden wurden auch nach der “Wende” nicht geheilt und zeigten den Beginn vom Ende einer Ära an. Das alles konnte man beiläufig registrieren, um es irgendwann später zu verstehen. Zumeist wurde es übersehen. Wichtiger war der Moment.

Mehr geduldet als gestützt

Der Gemischtwarenladen war nach dem Krieg Institution geblieben. Das “Kaufhaus Günther” führte Haushalt-, Schreib- und Eisenwaren, Spielzeug, Kleidung, Elektrogeräte und Einrichtungsgegenstände. Die Besonderheit bestand darin, dass das Sortiment inmitten der kollektivistischen Ödnis nicht vom mühsam durch Masse kaschierten Mangel geprägt war, sondern hier aus unerfindlichen Gründen Überfluss zu herrschen schien. In bis an die Decke reichenden, teils nur über Leitern erreichbaren Regalfächern hinter den Verkaufstheken mit den ungewohnt engagierten Fachberatern, beidseits schmaler Gänge, ja in jeder Nische stapelten sich Dinge, die man sonst nirgendwo sah: Spezielle Werkzeuge, Baumaterial, Faserstifte, Papiere, Badewannen, Pfannen, Kleidung ohne Anmutung von Uniform, Fahrräder.

Jeder irgendwie verfügbare Platz im Inneren wurde genutzt. In den Fenstern wurden Plüschtiere drapiert, in der Mitte türmten sich Reisekoffer, neben Thermoskannen baumelten Regenschirme und reduzierte Klobürsten mit durchgestrichenem EVP-Schild. Nur gelegentlich bekam man hinter vorgehaltener Hand zu hören, dass das Haus staatlicherseits mehr geduldet als gestützt wurde.

Kindheitsträume in geputzten Vitrinen

Für Kinder war das alles wenig interessant. Sie steuerten zielgerichtet auf eine schmale knarzige Holztreppe im zweiten Obergeschoss zu, die noch weiter nach oben ins ultimative Paradies führte: Die Spielwarenabteilung. Hier gab es Brettspiele, Malfarben, Puppen, Kostüme, und vor allem… Modelleisenbahnen! In sorgsam geputzten Glasvitrinen standen, geordnet nach Spurweiten N, TT und H0, Loks und Wagen, von denen man wusste, dass sie beim Drehen am Trafo zu leuchten beginnen und damit die Illusion perfekt machen würden. In den Fächern hinter den Vitrinen fand sich alles, was ein Weltenschöpfer brauchte: Bahnhöfe, Fachwerkhäuser und Fachwerkbrücken, Tunnel, Signale, Schranken, Rasenmatten. Maßstabgerechtes Zubehör in unerschöpflich erscheinender Vielfalt. Plastikklebstoff in kleinen Tuben, dessen Geruch schon verriet, dass man beim Montieren nur einen Versuch haben würde.

Nicht selten tauchten ganz oben entnervte Mütter auf. Mit prall gefüllten Einkaufsbeuteln, von ganz unten aus der Haushaltsabteilung kommend. Sie hatten den wirklich kleinen Zugang übersehen, von der Vermisstenanzeige erst im letzten Moment Abstand und den verzückten Bub wieder in die schweissnasse Hand genommen. Auf dem Heimweg hatte die Insel der Möglichkeiten aber dann zumeist tiefe Spuren im Belohnungssystem des Besuchers hinterlassen. Im Portemonnaie natürlich auch.

Jährliches Ritual

Den ultimativen Kindheitszauber aber entfachte das “Kaufhaus Günther” zur Vorweihnachtszeit. Es begann damit, dass die zu ebener Erde liegenden, insgesamt sechs großen Schaufenster, für eine Woche von innen mit Vorhängen abgedeckt wurden. Dies war der sichtbare Auftakt für ein sich jährlich wiederholendes Ritual: Der kleinen, aus den umliegenden Wohnvierteln gespeisten Völkerwanderung nämlich, die dem Ziel diente, durch winzige offen gebliebene Spalte einen vorzeitigen Blick auf das zu erhaschen, was sich hinter den Scheiben vollzog. Die begehrlichen Blicke der Kleineren galten noch ausschließlich den dort entstehenden Kulissen und Staffagen.

Die der Heranwachsenden mehr und mehr den attraktiven Dekorateurinnen, die in Söckchen und Kitteln eine Körpersprache an den Tag legten, die wesentlich geheimnisvoller schien als die Ergebnisse ihrer weltvergessenen Tätigkeit. Die wiederum galt wunderbaren Bühnenbildern. Jeweils ein Märchen pro Fenster wurde in ein reich ausgestattetes Standbild übersetzt. Die Ohrfeige. Die Schwäne. Die Tauben. Die Wackersteine. Der Ofen neben dem Pfefferkuchenhaus. Die Hexe, immer kurz davor, entschlossen zuzupacken.

Reichtum, den wir für unendlich hielten

Ende November, die Vorhänge waren noch nicht gefallen, wurden bereits Wetten abgeschlossen, ob in Fenster Zwei Schneewittchen oder Dornröschen gemeint sei, in welche Geschichte der Mohr mit dem Tablett gehören, und ob der Wolf in Fenster Fünf, wie bereits im Jahr zuvor, unmerklich den Kopf bewegen würde. Es war zweifellos der Höhepunkt des Jahres, wenn es am zweiten oder dritten Adventssonntag nach Einbruch der Dunkelheit durch den Schnee zwei Kilometer zu laufen galt, um das phantasievolle, nun gekonnt beleuchtete Spektakel in den Schaufenstern des “Kaufhauses Günther” endgültig zu inhalieren. Zu Beginn einmal schnell, von Fenster zu Fenster. Des Überblicks wegen. Und dann nochmal zurück. Ganz langsam. Szene für Szene. Figur für Figur. Detail für Detail. Reichtum, den wir für unendlich hielten.

Das “Kaufhaus Günther” gibt es nicht mehr. Es wurde 2016 abgerissen.

8 Antworten

  1. Das “Kaufhaus Günther” gibt es nicht mehr. Es wurde 2016 abgerissen.

    Deutschland wird auch gerade abgerissen.

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  2. Wirklich sehr bildhafte und schöne Vorweihnachtsgeschichte aus einem Land, das es so wohl nicht mehr gibt…

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  3. Vielen Dank für diese Geschichte, an das, an was man sich erinnert, wovon man erzählt, wird bleiben, auch wenn es real nicht mehr existiert.

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  4. Ganz herzig!
    Ich erinnere mich, daß meine Eltern mit uns Kindern einmal vor Weihnachten von Glashütte aus mit dem Zug nach Heidenau , dort in den Bus umstiegen und nach Kleinzschachwitz fuhren, auch um die Weihnachtsausstellung (wie beschrieben) zu sehen. Kaufhaus Günther hatte- was man den Gesprächen der Erwachsenen entnehmen konnte- etwas Magisches, wohl wegen der Tradition und des unverbrüchlichen Glaubens, dort ein Angebot aus einem anderen Universum außer halb von HO und Konsum zu finden.
    Ja, und mein ganzes Leben lang erinnere ich mich, wenn und weil gerade angesprochen, an die (heute überaus wertvollen!) mechanischen Figuren, vor allem im Dornröschenbild dem Koch, der dem Küchenjungen die Ohrfeige gibt.

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  5. Da kommt einem die Kindheit wieder ins Gedächtnis. Ja, auch ich habe vor den Schaufenstern gestanden und nicht nur eine Lok für meine TT Bahn dort gekauft.
    Mit dem Fahrrad waren es 20 Minuten von daheim.
    Das war Heimat. Die verschwindet und unwiederbringlich weg ist.

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  6. iST ES NUR DIE NOSTALGIE DER ALTEN WEISSEN MÄNNER ODER WAR DA WIRKLICH MEHR INHALT UND INNEHALTEN
    ICH FÜR MEINEN TEIL BIN FROH DIESE ZEIT ERLEBT ZU HABEN WENN ICH ENDE DER 50er ANFANG DER 60er MIT DER ALTEN TRAMBAHN 26 IN DIE FRANKFURTER INNENSTADT FUHR NATÜRLICH MIT DEN PAAR GROSCHEN VON OMA ODER OPA FÜR DEN FAHRSCHEIN ODER ABER DER ALTE HERR HAU DER SCHAFFNER MEIN SPÄTERER DRITTOPA DRÜCKTE EIN AUGE ZU UND DIES NUR UM BEI bEHLE sPIELWAREN ODER kAUFHOF INDEN FENSTERN DIE MODELLEISENBAHN ZU BEWUNDERN
    ES WAR EIN RAUSCH UND EINE FREUDE DIE GERÜCHE DIE BUNTEN FENSTER UND DIE VORFREUDE DOCH ES WAR NICHT DIESE FORM DER GIER DER HEKTIK DAS ÜBERLAUTE DIE AUFDRINGLICHEN KAUF MICH KAUF MICH SCHREIE DES HEUTIGEN VORWEIHNACHTLICHEN rAHMENS
    ICH HABE MICH FÖRMLICH DURCH DIE SCHAUFENSTERSCHEIBEN HINDURCH GESAUGT UND WAR SCHON GLÜCKLICH WENN ES MAL NEN PROSPEKT ZUM TRÄUMEN GAB UND DANN ANGEFÜLLT MIT TRÄUMENUND WÜNSCHEN MIT DER TRAM NACH HAUSE IN DIE RÄUME DIE NUR ZUDIESER JAHRESZEIT DIESEN DUFT INNEHATTEN.
    ICH GEBE ZU ES FEHLTMIR SEHR UND ES MACHT MICH AUCH EIN WENIG TRAURIG FESTZUSTELLEN DAS ES DIESE ZEIT KAUM NOCH ZU FINDEN GIBT DOCH HALT EIN LICHTBLICK DER WAR IN DEN LETZTEN JAHREN ZU VERSPRÜREN UND DASWAR UNSERE FAHRTEN INS ERZGEBIRGE NACH DER WENDE DOCH ICH HEGE DIE BEFÜRCHTUNG AUCH DORT ZERLEGEN DIE IRREN DAS WAS UNS EINST SO WERTVOLL WAR!

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  7. Weihnachtsdeko in den Schaufenstern-isnichmehr, sowas von gestern. Da lohnt sich der Einkaufsbummel nicht. Gehen Pleite, sowie es neulich bei SportScheck gewesen sein soll.

  8. Es war einmal. Und schön wars.

    Und heute? Heute wird in Karlstadt in Franken der Weihnachtsmarkt mit dem Muezzin-Ruf eröffnet. Nein, das ist nicht gelogen. Das ist nachzulesen bei NIUS.