Montag, 29. April 2024
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Nicht nur in Goslar: Architektonische Amokläufe

Nicht nur in Goslar: Architektonische Amokläufe

Goslaer Wohnhaus von vor 500 Jahren (l.) und von vor 50 Jahren (Fotos:privat)

Im Jahr 1980 schrieb Christian Brandstätter ein bemerkenswertes Buch, nämlich “Tore, Fenster, Giebel“. Er bezog sich in dem reich bebilderten Buch auf Häuser und Baukultur in Österreich. Das, was Brandstätter in seinem pointierten Werk über die architektonische Verschandelung Österreichs beschrieb, lässt sich auch auf das Norddeutschland von heute beziehen, denn seine damalige Kritik gilt erst recht auch heute. Aus dem Prolog des Buches:  “Es steht außer Zweifel, daß in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg viel weniger Türen und Fensterscheiben durch Entladung aufgestauten Massenwahns von außen eingeschlagen als durch freiwilligen Verzicht der Bewohner selbst auf Geschmack und wohlverstandene Tradition herausgerissen, verstümmelt oder irreparabel verschandelt wurden.

Und Brandstätter fährt fort: “…es steht außer Zweifel, daß alle Bomben und Schrapnelle von zwei Weltkriegen nicht imstande waren, so vielem an alter Bausubstanz den Garaus zu machen wie die beton- und stahlspendenden Füllhörner des Fortschrittsglaubens. Hunderttausende Amokläufer haben dreißig Jahre lang in ganz Europa Hausschlachtung betrieben – man hat unseren Häusern die Gesichter zerkratzt, die Zähne eingeschlagen, ihre Fensteraugen ausgestochen, reißt ihnen mit der Spitzhacke die Ziegel von den Knochen, läßt sie unter den Tiefschlägen schwerer Eisenkugeln zusammenbrechen. Dieser unauffällig vor sich gehende Massenmord zeugt von einer Aggression gegen das Bestehende, die mit dem technischen Fortschritt und seinen Bedürfnissen allein nicht mehr zu erklären ist…

Steingewordene Geschichte

Wir könnten es auch ganz kurz machen – und schauen uns einmal meine Heimatstadt Goslar an. Man nannte die Stadt im Mittelalter bewundernd das “Rom des Nordens“, denn dort gab es über 90 Kirchen und Sakralbauten auf einem relativ kleinem Gebiet. Wenn wir heutzutage die mittelalterliche Altstadt durchstreifen, dann finden wir dort die einfachen Fachwerkhäuser von ehemaligen Tagelöhnern (“Niederdeutsches Einraumhaus mit doppelgeschossiger Däle“) – ohne Schnörkel und Schmuck. Das lag daran, dass diese Häuser eine Zeitlang praktisch als “Wohnmobile“ genutzt wurde: Man zog als Tagelöhner im Harz mit seinem gesamten Haus zu der Stelle, wo für einige Jahre wieder ergiebiges Erz gefunden wurde. Das Fachwerk des Hauses errichtete man einfach an anderer Stelle, füllte das Gefach mit Lehmboden und Weidenruten aus der direkten Umgebung und blieb dann bis zur Erschöpfung des Tagebaus dort wohnen – irgendwann, als der Bergbau durch ausgefeilte Techniken ergiebiger wurde und große Bergwerke und Gruben entstanden, zog man einfach nicht mehr um und das mobile Haus wurde zur Immobilie und blieb bis heute stehen)

Dann die sogenannten Ackerbürgerhäuser, gewaltige Bauten, die bewohnt wurden von “Ackerbürgern“, also Bauern, die Bürgerrechte besaßen, aber auch Felder vor den Toren der Stadt. Ihre Bauten waren quasi Scheune, Wohnhaus, Kontor, Lagerhalle für (typisch bäuerliche) Fuhrwerke und Handelsstelle in einem. Wir erkennen sie durch die riesige Toreinfahrt in die “Däle“ oder bei größeren Ackerbürgerhäusern in den Innenhof. Des weiteren finden wir die Bürgerhäuser, die oftmals mit aufwendigen Schnitzereien und filigranem Balkenwerk vom Wohlstand des jeweiligen Bürgers zeugen. In ihnen wohnten Händler, Handwerksmeister – und in den kleineren Bürgerhäusern die Handwerksgesellen – zusammen mit ihren Familien.

Goslaer Patrizierhäuser mit Lüftelmalereien (Fotos:Wikicommons)

Dann gibt es etliche Patrizierhäuser, meistens aus Stein gebaut, oftmals ausufernd und filigran von Künstlern (Bildhauern und Schnitzern) gestaltet.

Außerdem sind da noch Zunfthäuser, Gildenhäuser und das Rathaus als repräsentative Häuser der jeweiligen Zunft, der Gilde und des Bürgermagistrats.

Kunstvolle Portalschitzereien mit Inschriften an Zunft- und Bürgerhäusern (Fotos:Wikicommons)

Und zuletzt gibt es natürlich noch die Verteidigungsanlagen sowie die immer noch zahlreichen ehemaligen Gewerkeanlagen (in Goslar gab es im Mittelalter z.B. fast hundert wasserbetriebene Mühlen im Stadtgebiet)

v.o.l.n.u.r.: Zunfthaus der Goslar Bäckergilde (heute: Hotel Kaiserwerth), Seitenansicht Rathaus, Rathaus Frontansicht und Marktplatz, ehemalige Lohmühle, mittelalterlicher Zwinger, Breites Tor (Fotos:Wikicommons)

Um es kurz zu machen: Wahrlich jedes dieser Häuser atmet Individualität; keines gleicht dem anderen; jedes Haus verströmt die Aura derjenigen, die es bauten – und natürlich auch derjenigen, die später in ihm wohnten, lebten und dem Haus “ihren“ Stempel aufdrückten. Wir erkennen an vielen geschnitzten Sprüchen das bedingungslose Gottvertrauen vieler Hausbesitzer. Wir sehen auch Abwehrmasken – Schutz gegen “böse Geister“ oder finstere Kräfte. Jedes Haus erzählt eine Geschichte. Wir ahnen die bangen Blicke der Frauen der Bergleute, wenn sie mitten in der Nacht ihre Männer verabschiedeten, weil diese wieder für fast eine Woche “in den Berg fuhren“ – denn sie wussten nicht, ob sie sie lebendig wiedersehen werden (das Bergmannsviertel wird deshalb bis heute im Volksmund “Nachtjackenviertel“ genannt).

Wir sehen die Knechte und Gesellen des Lohgerbers die Säcke mit der gemahlenen Eichenlohe von den Lohmühlen holen und durch die Stadt tragen. Nebenher trabt ein Patrizier auf seinem Pferd, der beim Waffenschmied am Ende der Stadt sein Kettenhemd reparieren lassen will. Und so weiter, und so fort. Die Hausindividuen sind einer der Gründe dafür, dass so viele Menschen in unserer Gegend gerne Städte wie Goslar, Quedlinburg, Wernigerode oder Hornburg besuchen und dort für einen Tag, ein Wochenende oder über längere Zeit verweilen – und dabei begierig die Geschichten erheischen wollen, die die Häuser ihnen erzählen.

…und die Bauten der Moderne?

Bleiben wir in Goslar und blicken wir nun in die dortigen Neubaugebiete: Sudmerberg wurde in den 30er Jahren von den Nationalsozialisten angelegt und nach dem Krieg hauptsächlich von Flüchtlingen aus Schlesien, Pommern und Ostpreussen besiedelt und erweitert. Dort finden wir Einfamilienhäuser in langen Straßen, wo von aussen betrachtet ein Haus wie das andere ausschaut. Blicken wir nach Jürgenohl, so wurden dort nach dem Krieg, auf dem Gebiet des ehemaligen Flugplatzes Goslar, Wohnraum als Massenware in Windeseile für die zahllosen deutschen Binnenflüchtlinge aus den ehemaligen Ostgebieten hochgezogen.

Alte “Goslärsche“ sprachen abschätzig von “Karnickelbaukästen“. Das einzige, was die Uniformität durchbrach, waren die ungewöhnlichen Straßennamen: Etwa Marienburger Weg, Bromberger Straße, Bunzlauer Weg“ et cetera. Ab Ende der 1970er dann – just zur der Zeit, als das eingangs erwähnte Buch von Brandstätter geschrieben wurde – erschloss die Stadt Goslar ein weiteres Neubaugebiet, Ohlhof. Hier bauten hauptsächlich wohlhabende Beamte, Prokuristen, Selbstständige, die es zu etwas Reichtum gebracht hatten.

Häuser ohne Geschichten

Vergleichen wir nun die Häuser aus Sudmerberg, Jürgenohl und Ohlhof jedoch mit der Altstadt – und damit meine ich nicht die geänderten Bautechniken an sich! -, dann fällt sofort auf, dass die Häuser dort keine Geschichten erzählen. Im Gegenteil: Sie starren uns mit leeren Glotzaugen an. Individualität gibt es dann nur im Inneren. Der Niedergang unserer Kultur, das Entwurzeln aus gewachsenen Traditionen, welches wir heute so beklagen, da ein Bundespräsident voller Zynismus von unserem Wertesystem bekämpfte widerwärtige Sklavenhändler als “Helden“ tituliert: Genau dieser Zynismus, diese Geschichtslosigkeit liegt begründet in den Geschmacklosigkeiten der meisten Nachkriegsbauten.

Christian Brandstätter hat das – auf Österreich bezogen – bereits 1980 erkannt, in wundervolle Bilder gebannt und in einen aufrüttelnden Text gegossen: Wir sind es selbst, die die Geschmacklosigkeit, die Beliebigkeit und die gähnende Inhaltsleere zum neuen Schick aufgewertet haben. Wir haben die “Hausschlachtungen” salonfähig gemacht. Die heutigen Häuser sind zwar funktional – aber man sieht ihnen nicht mehr an, wer dort lebt oder gelebt hat. Vor diesen Häuser wird kein Tourist – auch nicht künftig, in einigen hundert Jahren (wenn sie dann überhaupt noch stehen), den Eindruck gewinnen, er besuche ein “Rom des Nordens“ besuchen. Wem dieses Thema am Herzen liegt und wer sich weitergehen damit befassen mag, der sollte sich das Buch “Tore, Fenster, Giebel“ von Christian Brandstätter antiquarisch zulegen.

6 Antworten

  1. Zeitpunkt falsch angesetzt, oder hat Herr Quintilian noch nie vom Bauhaus der 1920er gehört, mit dem die Verhäßlichung der Gebäude einen eigenen Namen bekam?

  2. Zu diesem Thema empfehle ich dringend dad Buch „bauen und bewahren auf dem Lande“ von Dieter Wieland.
    Hier schreibt sich ein Denkmalpfleger auf unnachahmliche Art dem Frust von der Seele.
    Absolute Leseemofehlung für alle, denen der vorangegangene Text nahegeht!

  3. Die Altstadt von Goslar ist auch die Kulisse für den wunderschönen Weihnachtsmarkt dort.
    Ich bin immer gerne durch dieses liebevolle Ambiente gezogen.

    1. Das hat mich auch gewundert. Offenbar stehen die wenigsten dieser wunderschönen alten Häuser unter Denkmalschutz. Hätten die Eigentümer dieselben Fenster mit Holzrahmen geordert, wären diese erheblich schmaler und damit unauffälliger ausgefallen.
      Da der Erhalt dieser reich verzierten Häuser jedoch sehr sehr teuer sein dürfte und Holzfenster regelmäßig gestrichen werden müssen, kann ich verstehen, wenn sich manche Eigentümer für pflegeleichte Kunststoff-Fenster entscheiden.

      Ansonsten herzlichen Dank an Herrn Quintilian für diesen wieder sehr anregenden Artikel!