Samstag, 20. April 2024
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Nietzsches Geburtstag wurde mal wieder vergessen

Nietzsches Geburtstag wurde mal wieder vergessen

Friedrich Nietzsche (Archiv:Imago)

Vor zwei Jahren konnten wir den 175. Geburtstag des Philologen, Philosophen, Schriftstellers, Dichters und Komponisten Friedrich Wilhelm Nietzsche (geboren am 15. Oktober 1844 in Röcken bei Lützen, verstorben am 25. August 1900 in Weimar) feiern. Man wird nicht sagen können, dass dieses Jubiläum die Tiefen der Bevölkerung im heutigen Deutschland erreicht habe. Erst recht gilt dies für eine diesjährige Ehrung zum Hundertsiebenundsiebzigsten.

Vieles in Nietzsches Denken wurde nach dem Zweiten Weltkrieg und wird heute immer noch oftmals jenem nationalistischen Gedankengut zugerechnet, dem wir Biodeutschen schnurstracks wiederum willig zu folgen und in eine Neuauflage des Dritten Reiches hineinzumarschieren bereitstünden, sofern es ungefiltert uns in seinen Werken begegne.

Jedenfalls war Nietzsche zum Beispiel in der DDR nur denen zugänglich, die sich wissenschaftlich betätigten, mithin sich zuverlässig im framing des ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaates bewegten. Aber auch bei uns in Westdeutschland galten die von Nietzsche Begeisterten als verdächtig: Begriffe wie “Herrenmoral” und “Übermensch“, sodann seine Frauenfeindlichkeit (“…vergiss die Peitsche nicht“) sowie das gesamte Ziel seiner macchiavellistisch anmutenden denkerischen Anstrengungen (“Der Wille zur Macht“) ließen ihn doch auf jeden politisch selbstverorteten dezidierten Nicht-Rechten deutlich unsympathischer wirken als, sagen wir, Kant, Hegel oder Marx. Nietzsche der Macho, Nietzsche der Nazivordenker, Nietzsche der Wagnerianer, Nietzsche der Antichrist. Damit war er abgestempelt und mithin erledigt.

Abgestempelt und erledigt

Doch Jünglingsmeinungen sind zum Glück leicht erschütterbar, zumindest aber angenehm biegsam sowie durchaus fähig, neue Aspekte aufzunehmen und ins eigene bisherige Weltbild zu implementieren – sofern das Gift des Fanatischen noch nicht gewirkt hat. Gegen glühenden Nietzsche-Hass habe ich selbst mich in jungen Jahren schon deswegen immunisiert, weil mein eigentlicher innerer Brandherd musikalischer Natur war. So nahm ich denn eher herzlichen Anteil an Nietzsches durchfantasierten Nächten am Klavier, an seinen Kompositionsversuchen und gefühlvollen Sologesängen … Aus alldem sollte eine große Künstlerkarriere erwachsen… allein an Disziplin mangelte es. Nietzsche hat stets in tönender Selbstberauschung sein eigenes satztechnisches Unvermögen überspielt, ohne sich dies je ehrlich einzugestehen.

Es war Richard Wagner (1813-1883), der ihm da auf die Schliche kam. Daher Nietzsches Umschlag von höchster Liebe zu blankem Hass – sein “Fall Wagner” ist eine Abrechnung weit über den Tod des Meisters hinaus. Von ihm in seinem kompositorischen Schaffen nicht anerkannt zu sein, ja mehr noch: dem Wagner-Kreis Anlass zu Ironie und Spott geliefert zu haben – davon hat sich der zutiefst gekränkte Nietzsche intellektuell nie wieder richtig erholt.

Aber auch die Philologie, sein ureigenes und professionelles métier, ließ ihn am Ende freudlos zurück. Als noch nicht Fünfundzwanzigjähriger hatte die Universität Basel ihn auf einen außerplanmäßigen Lehrstuhl gesetzt, ein Jahr später, 1870, wurde Nietzsche ordentlicher Professor dortselbst. Er gab seine Hochschullehrertätigkeit aber aus gesundheitlichen Gründen 1879 auf und lebte die nächsten zehn Jahre unstet in Graubünden, an der Côte d’Azur, in Ligurien und im Piemont. In Turin brach er im Januar 1889 zusammen. Sein ehemaliger Basler Kollege, der Neutestamentler Franz Overbeck, vermittelte ihn nach Jena, wo Nietzsches Mutter weitere Hilfe veranlasste. Nach deren Tod nahm sich die Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche in Weimar des geistig Umnachteten an.

Kühner Aphoristiker und Prophet einer neuen Zeit

Der Bruch mit Wagner und die Aufgabe seines Professorenamtes im bürgerlichen Bildungsbetrieb machten aus Nietzsche jenen kühnen Aphoristiker und unabhängigen Propheten einer neuen Zeit, als der er seitdem in der großen Bandbreite von klug bis ratlos rezipiert wird. Von feiner Hintersinnigkeit bis zum groben Missbrauch für staatliche Ideologen und brutale Propagandisten hat das Werk des Pfarrerssohns alles über sich ergehen lassen müssen. Der einstige Schüler in Schulpforta (Naumburg an der Saale) sowie der Student in Bonn und Leipzig hätte sich in seiner zarten Empfindsamkeit all das nie träumen lassen.

Unkonventionell und geistig die anderen weit überragend war er von Anfang an. Er schrieb Briefe und Gedichte in griechischen Versmaßen, hatte Sinn für die Schönheiten der Natur, war aber auch eigentümlich gehemmt, was sich in einer das ganze Leben durchziehenden Selbstisolierung auswirkte. “Frei aber einsam“, das Motto einer Sonate, an der Johannes Brahms (1833-1897) mitwirkte, könnte man auf das (Künstler-)Leben Nietzsches übertragen, wenn der denn nicht Brahms so geringgeschätzt hätte. Philiströs kam er ihm vor, ebenso wie alle anderen Deutschen, die sich stolz auf ihr Bismarckreich wähnten. Nietzsche sprach von der Reichsgründung 1870/71 nur im Modus tiefster Verachtung.

Ich las also auch davon und dachte bei mir: Dann kann er ja gar nicht so deutschtümelnd-herrisch sein! Und die lebenslange Beschäftigung mit der Musik macht wohl auch seine geschriebene Sprache so anziehend, volltönend und lebendig, wie sie nun einmal ist! Mich begeistert diese schriftlich niedergelegte Freiheit, mit der er sich im Völlegefühl und Übermaß einer außergewöhnlichen Interpunktion bedient: Das steigert den Ausdruck ungemein, überall Sforzati, Interruptionen, Anflüge von Bagatellen, Impromptus, Grillen und dröhnenden Ostinatobässen. Hier bricht sich ein fröhlich enthemmter Freigeist seine Bahn, genüsslich die gesamte abendländische Geistesgeschichte von hoher musikalischer Warte aus hellsichtig überblickend, mit untrüglicher Sympathie für das Sonnige und Heitere. “Denn alle Lust / will tiefe tiefe Ewigkeit“: Also sprach Zarathustra alias Nietzsche.

Unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Mit der Entdeckung dieser unerträglichen, aber in Zukunft gewiss zu erreichenden Leichtigkeit des Seins hat sich Nietzsche nicht nur zu den Bräsigen in den Bildungswelten in einen unüberbrückbaren Gegensatz gebracht, sondern auch zum in seiner Zeit vorherrschenden Verständnis von Staat und Kirche. So erklärt sich seine Begeisterung für die Macht- und Kraftmenschen der Renaissance in Italien, nimmt er doch beispielweise Partei für den lebensprallen Césare Borgia und gegen den deutschen Mönch Martin Luther, dessen Anliegen jene neiderfüllte kleingeistige Sklavenwelt zurückrufe, die man unter südlicher Sonne gerade hinter sich gelassen habe im Namen wahrhaftiger Humanität. So nennt sich Nietzsche ganz bewusst in seinem letzten vollendeten Buch: “Der Antichrist“. Nicht so sehr ein religionsfeindliches, sondern das sich hier meldende kulturkritische Potential dieser “Anklage” ist bis heute virulent.

Und wie ging es musikalisch aus mit Nietzsche? Sein neuer Stern wurde Georges Bizet (1838-1875), jener frühverstorbene Franzose, dessen “Carmen“-Musik grenzüberschreitend in ganz Europa erfolgreich aufgeführt und begeistert aufgenommen wurde. Hier sah Nietzsche die Kunst auf einem neuen hellen fortschrittlichen Weg, von allem Bombast und Ballast befreit, dadurch in neuer Frische heilsam verjüngt. Der kulturell altgewordene und absterbende décadent weicht dem alles überwindenden Übermenschen, der kraftvoll das Leben in die eigene Hand nimmt. Nietzsches durch und durch in Syntax wie Semantik bestimmte Aneignung des Tonfalls der Lutherbibel, aber auch seine tränenreiche Rührung hervorrufenden Erlebnisse von Aufführungen der Bachschen Matthäuspassion zeugen wiederum von einem offenen Geist, der die tatsächlich großartigen geistlichen Schöpfungen als solche, trotz aller Widersprüche, dankbar anerkennt.

Wer sich auch heute in tumben Coronazeiten für unkonventionelle Wahrheiten und unzeitgemäße Betrachtungen interessiert, darf seinen Denkstil zuversichtlich durch Friedrich Nietzsche anregen lassen, völlig fern von ideologischer Überfrachtung links wie rechts – dafür unaussprechlich heiter und immer eigenständig!

 

Dieser Beitrag erschien auch auf dem persönlichen Blog des Verfassers.

6 Antworten

  1. Ein großes Problem haben und hatten die Deutschen wohl damit, dass Nietzsche sich nicht in ein Korsett stecken ließ, etwas drastische Meinungen vertrat. Und? Nicht jeder muss Frauen mögen, deswegen ist er/sie/es nicht gleich ein Feind, ein Hasser, wie man heutzutage so gern übertreibt und schubladenmäßig unterstellt und einteilt. Das größte Problem ist, Nietzsche ist Deutscher. Er wird genauso vergessen, genauso getilgt werden wie letztlich Beethoven, der ein Schwarzer war, Mozart etc. Rassistische Kunst nennt man das heute, oder cancel culture. Wenn ich mir den menschlichen Bodensatz heute ansehe, kriegt keiner irgendetwas gebacken, wie die o. a. , geschweige denn Leistungen wie die Menschen in der Antike, mit Verstand, mit Erfahrung, mit Experimentierfreue, Mut zum Risiko und großem Wissen.

    1. Das ist ein Artikel, der in schöner Wortwahl dem großen Philosophen, Philologen und Denker Friedrich Nietzsche huldigt. Danke!
      @ Ketzerlehrling, seit wann ist Beethoven ein Schwarzer? Beethovens Vorfahren waren Niederländer und keine Afrikaner.

      1. ZITAT: “seit wann ist Beethoven ein Schwarzer?”

        Seit zur Plünderung Deutschlands auch die Inbesitznahme deutscher Errungenschaften durch die Invasoren zur Mode wurde. Erst kürzlich hat irgendeine Schwarze die Behauptung mit Beethoven ausgewürgt. Und dann gibt es da ja noch immer die dreiste Behauptung, die Türken hätten nach dem Weltkrieg auch nur irgendetwas maßgebliches geschaffen. Sie wissen schon, das Sonnensystem in sieben Tagen erschaffen oder so.

  2. Gänzlich unerwähnt sollte nicht bleiben, dass Nietzsche an einer progressiven Nervenkrankheit unter Einschluss des Gehirns litt, die die letzten Jahrzehnte seines Lebens zunehmend überlagerte. Dem Großartigen seiner Gedankengänge tut das keinen Abbruch, es sollte aber bei den Brüchen im Werk assoziiert werden.