Kleine Helden des Alltags (V): Handwerksmeister Gottfried „und sin Fru”

Kleine Helden des Alltags (V): Handwerksmeister Gottfried „und sin Fru”

Küche mit Stube in den 1930er Jahren (Symbolbild:Imago)

Mit unserer heutigen Heldengeschichte begeben wir uns zurück in sehr dunkle Gefilde unserer Vergangenheit. Gottfried wurde 1902 im Schwarzwald geboren. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Zwar war er mit Abstand der Klassenbeste, doch zum Besuch einer höheren Schule fehlte seinen Eltern einfach das Geld. So arbeite er ab seinem 14. Lebensjahr in einer Fabrik und verdiente sich dort sein “Lehrgeld”. Ab seinem 16. Lebensjahr absolvierte er eine Schuhmacherlehre. Damals war es für die Erlangung der Handwerksmeisterschaft Voraussetzung, eine bestimmte Zeit “auf Wanderschaft“ bei möglichst vielen fremden Meistern zugebracht zu haben.

Es waren die letzten Tage des ersten Weltkriegs, als Gottfried sich auf diese Wanderschaft begab. Sein Weg führte ihn den Rhein hinauf, wo er in der Gegend von Frankenthal das Herz der deutschen Gerberindustrie erkundete und viel über verschiedene Lederarten und Gerbsysteme lernte. Weiter ging es über Koblenz und Andernach nach Wegberg und von dort Richtung Osten – er zog über die Heide, durch Mecklenburg, Pommern und Danzig immer der Ostseeküste folgend bis nach Ostpreußen, nach Königsberg. Für diese Fußreise brauchte er insgesamt fast zwei Jahre. Die von seiner Zunft vorgeschriebene Wanderschaftszeit hatte er damit erfüllt. Zurück nahm er deshalb eine direktere Route, um schneller wieder in seiner zu sein.

Lebenslieben am Harzrand

Es ging also von Königsberg über Elbing, Graudenz und Kolberg, Posen und einen Schlenker über Spremberg (das er deshalb besuchen wollte, weil sich dort der damalige geographische Mittelpunkt des Deutschen Reiches befand) weiter nach Köthen, Bernburg und von dort immer am Rand des Harzes entlang. Er wollte den Harz nicht überqueren, sondern erst jenseits des Gebirges seinen Weg nach Süden in die Heimat lenken. Eines Tages jedoch sah er am Harzrand ein beschauliches Städtchen zu seinen Füßen liegen und verliebte sich auf den ersten Blick – zuerst nur in die Stadt; dort angekommen, lernte er dann jedoch seine Hedwig kennen – die „Oma Hedwig”, die wir aus der letzten Ansage!-Folge unserer „Kleinen Helden des Alltags kennen. Hedwig wurde seine Frau, und so entschied er sich, sich in dem schmucken Städtchen am Nordharzrand als Meister niederzulassen.

Nach bestandener Meisterprüfung bei der Handwerkskammer Hildesheim eröffnete Gottfried seinen eigenen Meisterbetrieb. Die bestehenden Verbindungen seiner Hedwig zu den Kumpels des Bergwerkes verschafften ihm schnell einen festen und jahrzehntelangen treuen Kundenstamm. Das Geschäft wuchs und wuchs, und erste Gesellen wurden eingestellt. Das junge Paar bekam auch bald Nachwuchs und alles deutete auf eine harmonische Zukunft hin. Als ihr Erstgeborener gerade einmal zwei Jahre alt war, ergriffen die „nationalen Sozialisten” die Macht im Land. Und keine zwei Jahre später erzählten einige Bergleute im Laden, hinter vorgehaltener Hand, dass es Gerüchte gäbe, dass irgendwelche Lager errichtet würden, in die Menschen, die für die nationalsozialistische Gesellschaft nicht nützlich waren, verschafft würden.

Eine Entscheidung fürs Leben

Eines Tages kam eine Kundin in das Geschäft und klagte unter Tränen, dass sie eine Schwester habe, die geistig behindert sei und zudem an einem Sprachfehler durch eine verkürzte Zunge leide. Die neue Regierung würde ihre Schwester wohl bald abholen und in eines dieser Lager stecken lassen, befürchtete sie, weil sie nur für einfachste Hausarbeit geeignet war und weder schreiben noch lesen könne. Zwar bestand damals für psychisch kranke Menschen noch nicht die akute Gefahr, in die Konzentrationslager zu kommen, die ursprünglich nur für politische Gefangene eingerichtet worden waren, dennoch drohte ihnen, als „unwertes Leben“ eliminiert zu werden, was später tatsächlich vielfach geschah. Die Kundin war sehr verzweifelt und fragte nach, ob die junge Handwerksfamilie nicht vielleicht eine Haushaltshilfe bräuchte. Denn wenn ihre Schwester eine Anstellung vorweisen könne, könne sie dies vor Verfolgung schützen. Sie bot an, ihre Schwester könne bei ihr selbst wohnen und dann täglich zu Fuß zu Gottfrieds Betrieb gehen und dort im Haushalt helfen.

Gottfried war tief bewegt von der Geschichte der Frau und versprach, darüber nachzudenken und mit seiner Frau zu sprechen. Am Abend erzählte er seiner Frau von dem Besuch der verzweifelten Kundin und der Notlage ihrer Schwester. Beide waren sich schnell einig, dass sie helfen wollten. Am nächsten Tag informierte Gottfried die Kundin, dass ihre Schwester bei ihnen als Haushaltshilfe arbeiten könne. Die Erleichterung der Frau war immens, und sie bedankte sich unter Tränen.

Die junge Schwester begann kurz darauf ihre Arbeit bei Gottfrieds Familie. Sie erwies sich als fleißig und zuverlässig, wenn auch etwas langsam aufgrund ihrer Einschränkungen. Die Familie behandelte sie mit Respekt und Geduld, was in jener Zeit keineswegs selbstverständlich war. Sie gaben ihr einfache Aufgaben im Haushalt, halfen ihr, sich zu integrieren, und schufen für sie ein sicheres Umfeld.

Während dieser Zeit erlebte die Familie nicht nur die Dankbarkeit der Schwester, sondern auch eine tiefe Zufriedenheit, jemanden in Not geholfen zu haben. Die junge Frau blühte unter ihrer Obhut auf, zeigte nach und nach mehr Selbstvertrauen und Freude an der Arbeit. Sie wurde fast wie ein Familienmitglied behandelt, was ihr eine Stabilität und Sicherheit gab, die sie dringend brauchte.

In den Jahren, die folgten, verschärfte sich die Lage für Menschen mit Behinderungen und andere als „lebensunwert“ betrachtete Gruppen. Die schrecklichen Maßnahmen des Regimes führten zu unzähligen Tragödien. Doch dank der mutigen Entscheidung von Gottfried und seiner Familie konnte die Schwester der Kundin dieser schrecklichen Verfolgung entgehen. Sie blieb weiterhin bei der Familie, half im Haushalt und war ein stiller, aber beständiger Beweis für Menschlichkeit und Mitgefühl in einer Zeit, die von Unmenschlichkeit und Grausamkeit geprägt war.

Die Geschichte dieser Rettung verbreitete sich in der kleinen Gemeinde, und viele Menschen sahen in Gottfried und seiner Familie ein Vorbild für mutiges und selbstloses Handeln. In den dunklen Zeiten des Regimes waren solche Geschichten selten, doch sie erinnerten daran, dass individuelle Handlungen und Entscheidungen einen bedeutenden Unterschied machen konnten. Die Solidarität, die die Familie zeigte, inspirierte andere, über ihre eigenen Möglichkeiten nachzudenken, zu helfen und Widerstand gegen das Unrecht zu leisten.

Jahre später, als das Regime zusammenbrach und die Geschichten der Opfer und Helden bekannt wurden, erinnerte man sich auch an die mutige Entscheidung von Gottfried und seiner Familie. Sie hatten ohne große Worte oder Heldengeschichten einfach das Richtige getan, und ihre Tat blieb ein leuchtendes Beispiel für Menschlichkeit und Mut in einer düsteren Zeit der Geschichte.

Nach kurzem Überlegen und weil sie tatsächlich eine Hilfe im Haushalt gebrauchen konnten, entschieden Hedwig und Gottfried, die Schwester der Kundin als Haushaltshilfe anzustellen. So kam kurze Zeit später Erna in das Handwerkshaus. Wie vereinbart, wohnte Erna bei ihrer Schwester und kam täglich zur Arbeit in das Haus. Drei Jahre später jedoch erkrankte ihre Schwester schwer und verstarb kurze Zeit später. Nun stand Erna mutterseelenallein in der Welt – sie hatte nur noch einen Bruder, der allerdings sehr weit entfernt wohnte. Also entschlossen sich Gottfried und Hedwig, Erna ein eigenes Zimmer zu geben und ihr zusätzlich zu ihrem Verdienst auch “Kost und Logis“ zu schenken, damit sie nicht in Gefahr lief, als „nutzlose Esserin”, wie es damals hieß, in eine Verwahranstalt verbracht und ermordet zu werden.

Eine große Hilfe

Erna konnte hervorragend Socken und Kleidungsstücke stopfen, so gut, dass man danach fast nichts von der Ausbesserung bemerkte. Sie war tatsächlich eine große Entlastung für Hedwig, auch, wenn sie ihr beim “Schnibbeln“, Kartoffelschälen und ähnlichem, ständig zur Hand war. Mit einer erstaunlichen Sturheit erfüllte sie jeden ihr gestellten Auftrag; sie war die beste Inkasso-Eintreiberin, die man sich vorstellen kann. Wenn Gottfried sie zu Beispiel bat, einmal bei einem säumigen Zahler wegen einer offenen Rechnung nachzufragen, stellte sie sich vor die Tür und schimpfte laut auf Plattdeutsch – permanent mit dem Finger auf der Klingel –, bis die Schuldner entnervt den ausstehenden Betrag an Erna übergaben; sie blieb hartnäckig, selbst wenn es manchmal Stunden dauerte, und gab erst Ruhe, wenn sie den ausstehenden Betrag endlich an Gottfried oder Hedwig übergeben konnte.

Mittlerweile war Erna ein fester Bestandteil der Familie geworden; die Enkel sind allesamt mit “Oma Erna“ aufgewachsen. Die Achse der Familie, Hedwig, war ohne ihre rechte Hand  Erna geradezu undenkbar. Als Gottfried 1985 starb, trösteten sich Hedwig und Erna gegenseitig. Und als Hedwig 1988 ihrem Gottfried folgte, wurde Erna natürlich, so lange es ging, in dem Haus belassen, das über mehr als 50 Jahre ihre Heimat gewesen war.

Wichtige Lehren

Erst als es 1991 gesundheitlich überhaupt nicht mehr ging, wurde sie in ein Pflegeheim ganz in der Nähe verbracht, in dem sie zwei Monate später verstarb. Erna wurde auf der letzten Ruhestätte von Gottfried und Hedwig – zusammen mit ihnen – bestattet.

Hätten sich Gottfried und Hedwig 1935 nicht für eine Anstellung von Erna entschieden, obwohl dies damals mit einer finanziellen Belastung einherging, wäre Oma Erna tatsächlich im Rahmen des Euthanasieprogrammes der Nazis getötet worden. So jedoch konnten auch wir, aus dem Freundeskreis des Enkels von Hedwig und Gottfried, die wunderbare „Oma Erna“ kennenlernen. Wir haben von ihr so manche Leckerei zugesteckt bekommen. Ich selbst habe aus den Begegnungen mit Erna schon früh gelernt, wie wichtig und notwendig es ist, sich frühzeitig einem übergriffigen Staat auf verschiedene – auch gewaltlose – Arten entgegenzustellen, ganz gleich, unter welchen Fahnen und mit welchen hehren Zielen und Absichten dieser seine Handlungen rechtfertigt. Will man die Achtung vor sich selbst und seinem eigenem Wertesystem aufrechterhalten, gibt es dazu keine Alternative.

3 Antworten

  1. Man kann es nicht deutlicher erkennen, als an solchen Geschichten und Geschehnissen:
    Das abartigste Übel aller Zeiten, die gefährlichste aller Religionen, ist das Ding, die Illusion, die man „Staat“ nennt.
    Staat behauptet, Sicherheit und Ordnung zu schaffen, die Leute behaupten, dazu bräuchten sie diesen.
    Nichts kann falscher und herbeiphantasierter sein!
    Staat ist immer nur Herrschaft und Unterdrückung, Leben in Angst vor absurden, übergriffigen, elementar abartigen Restriktionen und Verbotsorgien, sowie deren Aufnötigung mit Gewalt, Bestrafung für Zuwiderhandlung.
    Die schlimmsten Versionen dessen finden sich nahezu immer im deutschsprachigen Raum.

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  2. Ein wunderschöner Artikel. Solche Zeilen sind es, die mir mitunter frühmorgens ein ermutigendes Tränchen in die Augen drücken. Vielen Dank dafür!

  3. Pathologische Schwachsinnige zum Hausieren von Tuer zu Tier schicken? Sollen die das wieder einführen – frei nach dem Motto, die sind wie (messernde) Baelger nicht strafmuendig/zurechnungsfaehig?

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