Samstag, 27. April 2024
Suche
Close this search box.

Der “Norwegische Wald” und seine rebellischen Bewohner

Der “Norwegische Wald” und seine rebellischen Bewohner

Unterbewertete musikalische Perle: “R.A.M. Pietsch – Norwegian Wood” (Cover-Screenshot:Youtube)

1988 wurde ein sensationelles Gesamtkunstwerk auf Schallplatte veröffentlicht, das – oberflächlich betrachtet – eine Art Beatles-Symphonie darstellt. Das Werk bietet jedoch noch weit mehr und es hatte neben der kompositorischen Brillanz geradezu prophetische Züge – ganz besonders, wenn wir uns die beängstigende Murksel-Epoche und sogar noch deren Nachfolger, die Ampel-Harlekine, ansehen. Der Text des Albums wurde von dem berühmten Librettisten Michael Kunze gestaltet (neben vielen anderem bekannt für seine Vertextungen von “Die kleine Kneipe in unserer Straße“, “Griechischer Wein“, “Ehrenwertes Haus“, “Ohne dich schlaf ich heut Nacht nicht ein“, “Ein Bett im Kornfeld“, “Stimmen im Wind“ oder “Ich war noch niemals in New York“). Dazu später mehr.

Das Werk nennt sich “R.A.M. Pietsch: Norwegian Wood“. Rainer Pietsch hat die Beatles-Liederthemen (denn um solche handelt es sich – ausnahmslos) genial in ein Beatles-Oratorium/-Symphonie für ein großes Orchester, einen Chor und eine großartige Rockbesetzung komponiert beziehungsweise arrangiert. Wir finden hier, unter anderen, an der Gitarre den legendären Paul Vincent Gunia; am Bass den – sogar auf der Live-Bühne rauchenden – ultracoolen Günther Gebauer; dann den Sänger von “Nazareth“, Dan McCafferty, den variablen Ian Cussick sowie die zauberhafte Mary Hopkins als Sängerin und Sänger. Dazu noch eine Menge Hochkaräter aus der Studiomusikszene, ergänzt durch die Münchner Philharmoniker unter der Leitung von Rainer Pietsch selbst. Produzent des Albums war Klaus Voormann, persönlicher Freund der Beatles und Gestalter des “Revolver”Covers“ der Fab Four.

Düsteres Zukunftsmärchen mit Beatles-Songthemen

Rainer Pietsch, ehemaliger Leipziger Thomaner, Multi-Instrumentalist und Komponist, hat einerseits viele Schlager komponiert (“Ein Lied kann eine Brücke sein“ und etliche andere), aber noch weitaus mehr arrangiert (unter anderem “Für alle“ der Gruppe Wind beim European Song Contest 1985, die dort Platz 2 errangen). Vielen von uns ist er noch bekannt, obwohl er doch der große Unbekannte geblieben ist – denn Ende der Siebziger und Anfang der Achtziger Jahre war Pietsch eine gefragte Kapazität bei Kombinationsarrangements zwischen Rock und Klassik. Er schrieb die symphonischen Arrangements für das Electric Light Orchestra, schrieb (und arrangierte) mit Ritchie Blackmore die beiden Songs “Gates of Babylon“ und “Rainbow Eyes“ für das Album “Long live Rock’n Roll”, übernahm das komplette Arrangement für Freddy Mercurys “Mr. Bad Guy“ und viele mehr. Bei den Arbeiten zu “Mr. Bad Guy“ lernte er Paul Vincent Gunia kennen und schätzen. Dies war der Grundstein zu “Norwegian Wood“.

Michael Kunze schrieb, wie gesagt, eine Geschichte dazu, zu der dann Pietsch & Co. die geeigneten Beatles-Songthemen auswählten. Es handelt sich um ein düsteres Zukunftsmärchen folgendes Inhalts: Es war einmal in einer gar nicht so fernen Zukunft auf einem gar nicht so fremden Planeten…  Von sehr weit weg gleicht die riesige Stadt einem Ameisenhaufen, in dessen Mitte ein schwarz glänzender Quader steckt. Wenn man näherkommt, sieht man menschenähnliche Wesen mit versteinerten Gesichtern, die immerfort Uhren und Zeiger kontrollieren. Offensichtlich leiden sie an nichts Mangel. Trotzdem sieht man sie niemals lächeln. Auch sind ihre Augen wie tot. Denn in der gläsernen Stadt sind Gefühle verboten. Dieses Verbot hat die Regierung angeordnet. Sie beherrscht den ganzen Planeten von dem schwarzen Quader aus. Nicht das kleinste Vorkommnis entgeht ihr. Zu den unteren 800 Stockwerken des Quaders haben die Einwohner der Stadt Zutritt. Sie arbeiten dort in Tag- und Nachtschichten, indem sie alle Gegenstände der Natur – Blumen, Bäume – in gleichförmige Einzelteile zerlegen und zerstanzen. Die Regierung hat das so angeordnet, sie bezahlt dafür….

Von “taz” & Co. früh verkanntes Gesamtkunstwerk

Rainer Pietsch komponierte die Orchestersätze und Klaus Voormann gestaltete das Cover: Ein Gesamtkunstwerk war entstanden. Klar, dass die Öko-Spießer und Sozialismus-Schranzen von der “taz” damals, 1988, kein positives Wort darüber schrieben. Damals wie heute haben sie nicht verstanden haben, wofür Musik, insbesondere Rockmusik, steht. Für derartige “Ideokraken” ist Musik, ist Kultur generell immer nur nützliches Vehikel zum Erreichen ihrer politischen Ziele. Statt dieses hochinnovative  Musikprojekt als anarchistisches Meisterwerk zu erkennen, fiel ihre Kritik vernichtend aus: “R.A.M. Pietsch” habe Beatles-Songs zu einem Kitsch-Oratorium arrangiert! Wahrscheinlich halte er uns alle für senile Beatles -Fans, die dabei verzückt ihre verfetteten Hintern schwenkten! Die Münchner Philharmoniker müssten hier die erbärmlichsten Floskeln herunterfiedeln und die Melodien pastös auftragen! Ian Cussick und Dan McCafferty hätten die Gesangsphrasen nicht unter Kontrolle!

Mehr noch: Die harmonischen Vereinfachungen seien durch nichts zu rechtfertigen! Es gäbe solch horrende Peinlichkeiten wie die (spaßig gemeinte) pädagogische Aufbereitung von Piggies am Musikcomputer und den Versuch, “Revolver” zum Weihnachtslied umzugestalten! Unsäglich sei auch der ökologische Programmtext von Michael Kunze, der die obskure Collage zusammenbinden solle! Und, Gipfel des Skandals, Klaus Voormann habe das Ganze auch noch mitproduziert! Ja, ist denn auf niemanden mehr Verlass?!? Leider haben damals viele Kulturredaktionen die Sichtweise der “taz” übernommen, ohne sich ernsthaft mit dem Werk zu beschäftigen, denn fälschlicherweise hatten die Musikredakteure der “taz” damals den Ruf, den “breitesten” Überblick über die Rockszene zu haben. Letzteres stimmte schon – ist aber ein metaphorischer Selbstgänger: Denn natürlich waren die dort dauerbreit. Anders wären sie und ihr sozialistisch-moralinspritzenden Geseier für geistig weltoffene Menschen wohl auch damals schon nicht zu ertragen gewesen.

Am Ende bleibt die Hoffnung

Doch zurück zum Werk und zu Kunzes dystopischer Rahmenhandlung : Einer der Bewohner der Stadt mit dem riesigen schwarzen Regierungsquader wurden zum Erfassen, Zerlegen und Zerstampfen von Pflanzen in den letzten noch unberührten, freien Winkel des Planeten – eben den Norweger Wald. Dessen Bewohner sind die einzigen, die bis dahin sich nie hatten staatlich kontrollieren lassen. Unser Held verliebt sich unsterblich in eine Norweger Wäldlerin – und es kommt zu einem großen Gelage im Wald. Doch dieses wird brutal unterbrochen von den Bulldozern zu den Klängen “Hey Bulldog“: Die Regierungsschergen nehmen unseren Protagonisten fest und verschleppen ihn in die Stadt. Dort soll er durch den Zentralcomputer zu einem gefühllosen Zombie umprogrammiert werden. Seine Gefühle sind jedoch zu stark, und der Computer bricht zusammen. Gleichzeitig greifen die Bewohner des Norweger Waldes an und wollen ihren neuen Freund befreien. Das System wankt und fällt, bis am Ende – der gesamte Planet wieder zum Norweger Wald wird!

Spätestens am Ende, wenn eine geradezu orgiastische Gitarre das “Norwegian Wood Theme” spielt, erfährt der erfahrene Musikliebhaber dann die ganze Brillanz in Rainer Pietschs Arrangement. Der Kreis schließt sich und die Geschichte endet so, wie sie begonnen hat: Mit mit einer lebendigen Hoffnung. Vielleicht ist gerade das der Bezug dieses zeitlosen Werks zu unserer aktuellen Gegenwart: Die Skepsis gegen alle erdenklichen staatlichen Autoritäten, die sich durch “R.A.M. Pietsch” schlängelt, ist eine der Lehren, die wir aus diesem Stück auch heute noch ziehen können. Führen Sie sich das Werk hier einmal in aller Ruhe zu Gemüte! Aber bitte erwarten Sie nicht die Beatlesnote by note“ – dann werden Sie enttäuscht. Wenn Sie sich jedoch für Beatles-Songs grundsätzlich begeistern können und offen sind für ein großartiges Arrangement, dann lohnt sich das Anhören.

3 Antworten

  1. Super Artikel/Beitrag. Hat meinen Wahrnehmungshorizont erweitert. Auf Spotify nicht gefunden. Habe sofort eine CD von “privat” auf Ebay geordert. Freue mich wie ein 72jähriger Schneekönig aufs erste hören. Danke für diesen inspirierenden Artikel.

  2. Nachdem mein erster Kommentar hier nicht übernommen wurde, weil ich zu schnell war, offizielle Nachricht hier nach drücken absenden, versuche ich es nochmal.
    Ich versuche das Stück zu finden, eher im Link oben, da der Kollege über mir es schon nicht auf Spotify gefunden hat. Mit der Empfehlung Gates of Babylon auf jeden Fall, da ein grandioser Song. Aber, ich wollte mich noch einmal herzlich bedanken für die letzte musikalische Empfehlung, die leider viel zu selten sind. Mac Arthur Park ist ein Kunstwerk und geht mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf. Und sehr mysteriös, nach 50 Jahren gesichertem Musik Hörens , ich kannte das Lied noch nicht. Den Film ja. Und die Geschichte der Beiden ist einfach herrlich. Also, Beste Grüße!
    P.S. Kleiner Return. Ich entdeckte kürzlich, auch rein zufällig einen in der Jugend gehörten Song wieder. Blancmange Waves. Und dazu noch das auch schon vergessene Blind Visions. Herrlich!

  3. Ein wunderbarer Text, der gerade hier, in einer Zone, wo die Gedanken noch frei sein können, an etwas sehr wichtiges erinnert – an den auch politischen “Mittelstand” der Popkultur! Kam doch die innovative Kraft aus Teams mit Selbständigen (!), waren es kleine Label und unabhängige Musikzeitschriften, Tonstudios, freie Produzenten etc., die hier den Puls des unkonventionellen Movements ausmachten. Es war auch der Rock’n’Roll, der den Linksfaschismus zu Fall brachte, Vaclav Havel war ein Fan von Frank Zappa. Wir brauchen wieder einen “Wind of Change”, der die linken Spießer erneut von der Macht wegfegt. Gute Musik gegen schlechte Politik. Die Behauptung der Linken, ihnen allein würde die Popkultur
    gehören ist eine dreckige Lüge. Mit dem Terror gegen Rammstein haben sie sich entlarvt. Lasst mit Till Lindemann das Rrrr rrrrollen. Rrrock’n’Rrrrrroll gegen Grün und Rot!!!!!