Montag, 29. April 2024
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Unsichere Zeiten oder: Wenn selbst Reisen kaum noch heilt (I)

Unsichere Zeiten oder: Wenn selbst Reisen kaum noch heilt (I)

Kontemplatives Reisen: Viel mehr Selbst- als Zielfindung (Foto:privat

Erstmal weg hier – und Hoffen auf Linderung! Im nunmehr vierten Herbst der neuen Zeitrechnung haben sich für viele Freiheitsliebende, sowohl aus den Lagern der Träumer als auch der Realisten, die Hoffnungen auf eine Rückkehr zur „prä-coronalen Epoche” vollständig zerschlagen. Das gegenwärtige Sommerende festigt nicht nur meteorologisch die Ahnung einer sich lange nicht mehr umkehrenden Tristesse. Mein bewährtes Antidot hieß in Fällen von seelischer Gram, innerer Einordnung, Sinnsuche und Aufarbeitung des Rezenten stets: Ortswechsel und temporäre Flucht ins Blaue. Warum dieser Eskapismus immer unzulänglicher funktioniert, möchte ich im Folgenden versuchen, zu beschreiben.

Die in den zurückliegenden Sommermonaten geradezu inflationär im medialen Blätterwald aufploppenden Artikel über die „Freuden und Vorzüge des Daheimbleibens“ nebst glorifiziertem „Verzicht aufs Reisen“ bewirken bei mir schon von Natur aus das diametral Entgegengesetzte. Weil mir inneres Aufbegehren gegen jedweden hanebüchenen, allzu offensichtlichen Mumpitz seit Kindheitstagen im Blut liegt, reagiere ich auf ideologisierendes Nudging jedweder Couleur umgehend mit emotionaler Übelkeit und nachfolgendem Fluchtreflex. Derart bestärkt in meinen Reiseabsichten werfe ich also, bevor trübes Wetter und noch trübsinnigere Reglementierungen über uns hereinbrechen, noch einmal ungeplant Bettdecke, Kocher und Zahnbürste ins Auto und überlasse für anderthalb Wochen der staubigen Straße gen mediterranem Süden sowie dem stets verlässlichen Zufall die Wahl meiner täglichen Destinationen.

Durchs ländliche Nirgendwo gen Süden

Ja, der Diesel ist mittlerweile abartig teuer. „Ukraine-Krieg“ – klar, das versteht doch jeder und niemand würde sich da irgendwie bereichern wollen. Ehrenwort! Die französische Maut ist auch wieder gestiegen; und meine 70 Euro Strafe wegen 2  (in Worten: zwei!) Stundenkilometern zu viel „vitesse“ habe ich letzten Winter bei einem guten französischen Côte du Rhone (der weniger als ein Viertel der Strafe kostete) aufs Staatskonto der Republique überwiesen. Machen wir uns nichts vor: Private Mobilität ist inzwischen flächendeckend der erklärte Erzfeind – und die Konstrukteure dieser schönen, neuen Welt wollen diese Tatsache auch nicht einmal mehr bemänteln.

Also diesmal fernab der Hauptrouten durch die Grande Nation. Keine Autobahnen, keine Maut-Stationen. Stattdessen: Pittoreske Dörfchen im Nirgendwo. Es hügelt sich ab Mulhouse kuschelig dahin. Langeweile kommt nicht auf – nullement. Irgendwann wird aus den Landsträßchen die alte „Route Nationale 7“, die „Straße zur Sonne“, aus einer Zeit, in der es noch gar keine Autobahnen gab. Ich fühle mich wie in „Two for the Road“ (Henry Mancini auf meiner Playlist ist sicher mit schuld), und Audrey Hepburn sitzt als „Joanna“ neben mir: Riesige, runde Givenchy-Brille, weißes Kleidchen, Nickituch. Wir reden beiläufig übers Wetter und über das kleine Häuschen mit den hübschen Fensterläden, drüben auf dem Hügel. Hach – das war noch großes Kino…

Das Beste ist meist kostenlos

Nach vierzehn Stunden Fahrt taucht es vor mir auf, das sonnendurchglühte, mediterrane Anderswo. Die Olivenbaumgrenze. Milde, provencalische Hügel in der Abendsonne. Grillen zirpen, das Laub der Steineichen rauscht im warmen Wind. Kein Mensch weit und breit. Ein Uhu ruft. Die ersten Sterne funkeln durchs Dachfenster – und ich schlafe wie ein Baby in dieser Spätsommernacht. Gleich am nächsten Morgen geht’s weiter durch die bezaubernden Weindörfchen der Côte du Rhone mit den berühmten Namen Vacqueyras, Gigondas, Sablet, Seguret und Baumes de Venise. Hier hat nun die Weinlese begonnen und ich klaue mir als Wegzehrung die letzten Trauben Syrah von einer uralten Rebe. Aus dem schönen Luberon sind die Touristenmassen endlich verschwunden und in Gordes, Bonnieux und Roussillon ist die Beschaulichkeit wieder eingekehrt.

(Foto:privat)

In Bandol sehe ich endlich das Meer wieder. In engelshaftem Türkis leuchtet es unschuldig bis zum Horizont – und, sentimental wie ich bin, treibt mir dieser Anblick auch noch nach dem hundertsten Mal etwas Feuchte in die Augen. In Sanary aussteigen und laufen, bis vor zur kleinen Îl du Gaou. Von meinem Felsen, zu dem ich seit 15 Jahren immer wieder traumwandlerisch zurückkehre, sehe ich der Sonne zu, wie sie auf ihrem, nun schon deutlich niedrigerem, Halbkreis von Horizont zu Horizont wandert. So gut wie kein Mensch ist mehr hier, von der Klippe gegenüber beäugt mich einzig eine Möwe. „Hier am Mittelmeer hocken wir wie Frösche um einen Teich“, meinte Platon schon vor 2.400 Jahren. Von mir aus! Dann hocke ich mich jetzt für eine Weile dazu und lasse die Froschschenkel ins warme Wasser baumeln. Gegen Mittag schon den Rosé geöffnet; frischer Krabbensalat aus dem Carrefour und ein Stück Baguette dazu. Ich brauche gerade keine Restaurants, keine Bars, kein Publikum. Das Beste ist ohnehin meist kostenlos.

Exil der deutschen Schreib-Elite

Ruhiger bin ich geworden während der letzten Tage – auch wenn ich das Weltgeschehen längst nicht mehr so gut ausblenden kann wie früher. Die Naivität lässt nach, mit den Jahren. Das ist schon echter Mist. Ach ja – Sanary. Dieses einstige Refugium und Exilort der deutschen Schreib-Elite, die sich hier während der finsteren Zeit des Nationalsozialismus schutzsuchend niederließ, als die faschistische Zensur sich anschickte, jedes kritische Wort freiheitsliebender Geister zu zensieren und zu verbieten. Große Namen sind mit diesem mediterranen Kleinod verbunden: Lion Feuchtwanger, Erwin Piscator, Ludwig Marcuse, Arnold Zweig, Friedrich Wolf, Stefan Zweig, Thomas und Heinrich Mann, um nur einige zu nennen. Besonders am Herzen liegen mir seit vielen Jahren allerdings zwei von Thomas Manns Sprösslingen: Klaus und Erika Mann. Ihr bezauberndes, kleines Werk „Das Buch von der Riviera“ (nach ungezählten Südreisen weiterhin stets in meinem Gepäck) ist ein wahrer, zeitloser Schatz der Reiseliteratur. Voller Esprit, Witz und mit subtil- feinsinniger Beobachtungsgabe der beiden Enfantes-terribles-Geschwister ist es auch nach 90 Jahren seit seinem Erscheinen eine unerreichte Referenz aller Côte d‘Azur-Beschreibungen und man ist überrascht, wie viel Gültiges und Wahres man noch immer darin findet.

Echte Ikonen für mich: “Es ist mehr und mehr üblich geworden, an die Riviera ‘zum Arbeiten’ zu fahren. Das ist eigentlich auch das Schönste, was man dort unten tun kann, wenn man nur das geeignete Nest findet. Die Vergnügungen der Riviera sind nur selten noch ungewöhnlich. Aber ungewöhnlich ist die Kraft dieser zugleich beruhigend sanften und bunten Landschaft, konzentrierend zu wirken, wenn man Konzentration und produktive Sammlung sucht.” Oder:
Die größte Attraktion ist hier das Nichtstun. Die Riviera legitimiert es, dieses Dolce-far-niente, man braucht dazu nicht einmal krank zu sein. […] Denn auch die Eingeborenen der Küste sind faul, faul mit Technik und mit Genuß. Viele Fischer in den kleinen Nestern der Côte arbeiten wöchentlich nur drei Stunden. Dafür leben sie anspruchslos, von Obst, Fischen, Gemüsen. Es sieht aus, als seien sie glücklich. Dies allen Neuyorkern und Berlinern zum Nachdenken. […] Diese Sanary-Sommer werden in die Kunstgeschichte eingehen (und vielleicht auch in die Cronique scandaleuse der großen europäischen Bohème). Ihre Stimmung ist einzigartig.

“Wir konnten nicht zurück”

Das „Dolce-far-niente“ in den federleichten Zeilen der Beiden täuscht allerdings darüber hinweg, welch fürchterliche Zeiten während ihres Entstehens gerade in Gesamteuropa heraufdämmerten. So schrieb Klaus Mann später in „Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht“:
Wir konnten nicht zurück. Der Ekel hätte uns getötet, der Ekel an der eigenen Erbärmlichkeit und an dem widrigen Treiben um uns herum. Die Luft im Dritten Reich war für gewisse Lungen nicht zu atmen. […] Das Konzentrationslager oder die Gleichschaltung, keine dritte Möglichkeit schien sich uns ‘drinnen’ zu bieten. ‘Draußen’ gab es einiges zu tun, auch im Dienst und Interesse jenes ‘besseren Deutschland’ an das wir den Glauben nicht verlieren wollten. Die Frage, ob unser Platz im Dritten Reich gewesen wäre… Ich habe sie mir gestellt und ich habe sie mir beantwortet. Die Antwort lautet: Nein.

Angesichts der gegenwärtigen Entwicklung erscheint der hehre Exil-Gedanke so geboten und aktuell wie seit 70 Jahren nicht mehr. Im Zuge einsetzender Altersklarsicht („Weisheit“ wäre, angesichts meiner gewissermaßen noch jugendlichen Mittfünfzigerjahre, ein zu vollmundiges Wort) und natürlich auch gerade in Anbetracht der rezenten Globalisierung wird es jedoch immer schwerer, ein allzu fabulöses „Anderswo“ als vermeintliches Ideal zu glorifizieren. Natürlich ist es Augenwischerei, so zu tun, als wären die Menschen irgendwo anders vernünftiger oder gar besser. Gerade die Franzosen haben mich, abgesehen von meinen Landsleuten, vor zwei Jahren mit ihrem befremdlichen Corona-Gehorsam so bitter enttäuscht. Was ich damals hier im Süden an kafkaesken Absurditäten erlebte, beschrieb ich seinerzeit anschaulich und wahrheitsgemäß (wenngleich von den Zensur-Bataillonen mit umgehender Sperrung quittiert) in einigen nichtsdestotrotz viel gelesenen Artikeln, sowohl auf meiner damaligen „Gesichtsbuch“-Seite wie auch auf gutbesuchten alternativmedialen Plattformen.

Corona-Wahn statt „Liberté“

Daß auch hier in der französischen „Grande Nation“ das hehre Ideal „Liberté“ innerhalb weniger Monate einer traurigen „chasse aux sorcières“, einer sprichwörtlichen Hexenjagd gegenüber Vernünftigen, Rationalen und Klarsichtigen zum Opfer fiel, hatte ich weiland so nicht erwartet. Die sich meinem Langzeitgedächtnis eingebrannten Bilder einer auf der 30 Grad heißen Uferpromenade – gerade hier in Sanary – freiwillig an einer der Dutzenden „Teststationen“ anstehenden Gläubigenschar werde ich nie wieder los. Um sich, für den ersehnten Stempel auf einem temporären Gesetzes-Wisch, endlich einen C-Teststab durchs Nasenloch in den Rachenraum rammen zu lassen, stellte sich die schwitzende Meute devot in die zahllosen Warteschlangen.

Ebenso wenig vergesse ich die hunderten Brüllschrift-Schilder plus Absperrbänder vor den Freiluftflächen der Cafés und Bistros mit der Aufschrift: „Zutritt nur mit ‚geimpft oder getestet‘-Zertifikat!“; erst recht nicht jene ganz vorbildlichen Zeitgenossen, die sich ihre gegrillte Dorade oder ihre Crème Brûlée unter kurzem Anheben der unverzichtbaren Maske in ihre streng segmentgebräunten Gesichter schoben, während sie, süffisant und überlegen, ihr Augenmerk auf uns, die vor der Absperrung harrenden, ungestempelten, ungespritzten und unmaskierten Untermenschen, richteten. Fakt ist: All jene Cafés und Restaurants, die mir damals aus „Hygienegründen“ und mangels „gültigem C-Zertifikat“ blasiert und ohne Bedauern den Zutritt verwehrten, werde ich nie wieder betreten.

Dunkle Gestalten im lichten Süden

Die traurige Wahrheit ist: Auch hier, unter mediterraner Sonne, blieben letztlich “Fraternité” und “Egalité” genauso auf der Strecke, wie dies leider überall und bis in alle Zukunft analog geschieht, wenn sich eine Mehrheit aus wohlstandsübersättigten und freiheitsüberdrüssigen Menschen widerstandslos und unreflektiert in den zackigen Gleichschritt von Dogma und Diktatur einreiht, in der hündischen Erwartung einiger kurzfristiger Vorteile und Privilegien, mit denen sie sich dann gefühlt so grundlegend von den verachtenswerten Nichtkonformen unterscheidet. Diese zahllosen „Guten“, „Woken“, die konformistischen Bessermenschen, die “Support-the-current-thing”-Vertreter und „Anti-Irgendwas -isten“ haben dabei nicht in Ansätzen begriffen, daß sie selbst jene Anfänge sind, derer es eigentlich so vehement zu wehren gilt – und damit jene Metapher, die sie bei jeder Gelegenheit so eifernd wie inflationär bemüht sind zu postulieren, letztlich vollumfänglich persiflieren. Wie würden heute die Mann-Geschwister über diese Zeit schreiben? Eine vage Ahnung hätte ich ja.

Schon sind sie wieder da, die dunklen Gedanken. Denen wollte ich eigentlich entkommen, hier im lichten Süden. Doch eine Stunde schwimmen und ein Schluck Rosé wirken in derlei Fällen stets Wunder. Außerdem liegt die Septemberruhe nun über der Côte d‘Azur. Die alljährliche Partywalze hat sich wieder übers Inland und in den Alltag zurückgezogen. Selbst die Zikaden haben ihr Dauersägen eingestellt und sogar die Möwen halten ihren Schnabel, während sie den Anglern zuschauen, die gedankenversunken an der stillen Lagune stehen. Alles ist eingehüllt in ein sommerliches Nachglühen, welches ich über die Jahre hier so lieben gelernt habe. Die Welt ringsum ist gerade einnehmend schön und wohltuend – nur klappt’s leider mit dem Ausblenden nicht mehr so gut wie früher.

Gesamtheitlich frostig

Es geht auf Ende September zu und schon in wenigen Tagen ist sie da, die Herbsttagundnachtgleiche, der Beginn des dunklen Winterhalbjahres. Ein wiederkehrender, saisonaler Wendepunkt, der ganz nebenbei den gerade stattfindenden Umbruch und Zerfall unserer Zeit, die möglicherweise in unserem Leben nie wieder ruhig, normal und stabil sein wird, metaphorisch manifestiert. Während ich hier, an diesen milden Ufern, die vorliegenden Zeilen tippe, werden in meinen fernen, heimatlichen Gefilden nun bereits die Nächte kalt, bald folgen auch die Tage. Gesamtheitlich frostig ist es dort ohnehin längst geworden. Nach den bleischweren Merkeljahren, nach denen alle dachten, es könne nur besser werden, ist nun die finale Einäscherung eines einst prosperierenden Landes durch eine linksgrünbunte Ineptokratenregierung in vollem Gange.

(Foto:privat)

Wieder hofft man im Berliner Sink-Tank verdruckst auf warmes Winterwetter, damit das Gas im Land zum Heizen reicht. Wahrscheinlich sitzen, unter frischem Maskenzwang, schon wieder die ersten Corona-Kinder in tristen Klassenräumen und die ersten Corona-Pendler in tristen Zügen. Wahrscheinlich preist die Erfindernation Deutschland schon wieder Teelicht-Öfen als Heizquelle, Waschlappen als Dusch- Ersatz und Lastenfahrräder als Fortschritt in unser aller künftigem Alltag an. So wie letzten Herbst. Aber ich schweife ja schon wieder ins Dröge ab.

Einen Tag lang den wundervollen Klippenweg ums Cap d’Antibes gelaufen. Picknick und Wein eingepackt, so wie immer. Ausgiebige Badepausen nebst Springen von den bizarren Kalksteinfelsen. Sonne und Wärme. La vie est belle! Weiter vorn, im berühmten Eden Roc, dort wo einst Hemingway, Scott Fitzgerald, die Dietrich, Picasso und später halb Hollywood residierten, schwimmt man auch nicht besser – und mein hiesiger, riesiger Infinity Pool ist noch dazu echt.

Schönheiten und „Plus-Size-Models“

Am Stadtstrand von Nizza liegt spätnachmittags ein Grüppchen wohl einheimischer Bikini- Schönheiten im Sand. Supermarkt-Einkaufstaschen und sauber gefaltete Business-Klamotten auf einem Handtuch daneben. Von Twentysomething bis Mittvierzig. Allesamt klasse Figuren, tolle Erscheinungen. Das ginge glatt als Werbefoto durch, denke ich bei mir – und merke, vom Zeitgeist infiltriert, auf welch vermintes Terrain ich mich damit bereits begebe. Um das Maß thematisch gleich richtig voll zu machen: In der sommerlichen, deutschen Bikiniwerbung, so rekapituliere ich, hatten diese Saison maßgeblich Wuchtbrummen das optische Sagen. Insbesondere die schwitzend-drallen Reklamefrauen (neu-denglisch „Plus-Size-Models“) der Bademode-Kette „Calzedonia“ passten kaum noch auf die Litfaßsäulen. Überhaupt wechselt gefühlt mehr und öfter Milf mit negroidem Vamp – am besten gleich in Kombination, dann trifft man, als politisch maximal korrektes Werbebüro, vollends ins, nun ja, Schwarze.

Apropos: Hier, im französischen Nizza, ist es – rein werbeorientiert – ehrlich gesagt nicht viel anders. Mit abschätzigem Blick (laszives oder gar erotisierendes Lächeln scheint inzwischen ohnehin ein unter toxischen Sexismus fallendes Tabu zu sein!) glotzen fast unisono Schwarzafrikaner (d/m/w) aus den Schaufensterauslagen von Brillenläden, Klamotten-Outlets, Parfümerien und Nagelstudios, womit sie uns native, weiße, Minorität süffisant wissen lassen, wie obsolet unsere, ohnehin nur noch unter Auflagen geduldete, Existenz bereits jetzt schon ist.

Nizza oder Elfenbeinküste?

Übrigens: Wer auch nur einmal in Nizza eine halbe Stunde lang S- Bahn fuhr und sich den herablassend- selbstgefälligen Musterungen der unzähligen Kopftuch-Matronen mit ihrer lärmenden Sprößlingsschar ausgesetzt sah, oder sich in einem überfüllten Abteil voll Elfenbeinküste befand, begreift unmißverständlich, welche Zeit in Europa angebrochen ist. Von Marseille, welches ich mir vor ein paar Tagen zu durchqueren auferlegte, will ich erst gar nicht anfangen. Allein dieser abstoßende Moloch ergäbe Stoff für einen separaten Artikel.

Im einst mondänen Hyeres schlendere ich noch etwas durch die Schätze der Belle Epoque – eine Architektur, die noch den Namen verdient. Doch viele Fassaden sind längst ergraut und bröckeln; und in den Supermärkten dieser einstigen Perle wechselt niemand meinen 100-Euro-Schein (ich habe mir angewöhnt, möglichst nirgends mehr mit einer Plastikkarte zu bezahlen). In einer Gassenbar sitzt ein etwas räudig wirkendes Pärchen mit Adiletten und trinkt „Mort Subite“, doch trotz meines latenten Frustes, weil überall – wirklich die gesamte Küste entlang – alle Trinkbrunnen und Strandduschen abgestellt sind, ist mir momentan weder nach Bier noch „plötzlichem Tod“ zumute.

Radwege statt Trinkwasser

Statt des überschätzten Wassers gibt es nun hippe, zeitgeistige Radwege auf den Hauptadern aller großen Orte der Côte, wohin man auch schaut. Einspurig quetschen sich im Schrittempo die tausenden Autos gen Arbeit, Einkauf oder Heim (die Saison ist längst zu Ende), während rechts und links zwei bis drei Fahrradfahrer auf ihren absurd breiten und fantasievoll bunten Spuren dahinstrampeln. Die Kulturrevolution wird auch in douce France brachial durchgeprügelt… wenngleich hier wenigstens noch die Kernkraftwerke laufen.

Die Tage neigen sich. Abschiedsmelancholie macht sich bereits breit. Das Nervigste am Reisen ist ja bekanntlich, dass man sich stets nach dem Allerweltsbrauch richten und zur Rückkehr aufraffen muss, wie der scharfsinnige Beobachter, Philosoph und leidenschaftlich Reisende Michel de Montaigne bereits vor 450 Jahren zutreffend sinnierte. Auf der Küstenstraße Richtung Cannes finde ich im Vorüberfahren an einer Hauswand schließlich ein vertrautes, altes Graffiti wieder. Es stammt wohl noch aus den Corona- Anfangsjahren. „La vie est (re)belle!“ steht dort; darüber ein zum Licht aufsteigender Vogel. Ein grandioses Wortspiel – das im Deutschen allerdings nicht wirklich funktioniert.

Abschiedsmelancholie, Regentage – und ein letzter Rosé

Inzwischen ist es verblasst – was mich noch trübsinniger stimmt, als es dem Grau des heutigen Morgens bereits ein Stück weit gelang. Auf einmal sind sie weg, die Farben von Cézanne. Ja, der Süden lebt extrem vom Licht. Ein trister Regentag ist auch hier nur irgendein trister Regentag, trotz Palmen und 25 Grad. Während die Tropfen auf meine Windschutzscheibe prasseln, singt Barbara Carlotti von meiner Playlist gerade in ihrem eigentlich zauberhaften „Silence“ vom „ciel gris du Septembre“ – und ich frage mich perplex, wer hier eigentlich permanent die Filmmusik zu meinem Road Movie aussucht.

Noch hält mich die mediterrane Langsamkeit schützend im Arm – und ich wehre mich nicht. Ein paar meiner vertrauten Refugien, hier am großen, blauen Froschteich, wollte ich noch mal wiedersehen, bevor Winter, Wahn und Wandel in meinem Land der Richter und Henker für noch mehr Kälte und Ungewissheit sorgen. Man weiß nie, was kommt: Entweder liegt unser altes Europa im nächsten Frühling aus schierer Blödheit in Schutt und Asche, oder die Grünroten Khmer haben uns alles Wenige, was noch an Wahrem, Schönen und Guten übrig ist, bei Strafe verboten. Morgen ist hier dann der Regen durch – dann gibt’s bis zur gemächlichen Rückkehr in zwei Tagen nur noch Sonne und Rosé – und von mir weder Gemecker noch Geschreibsel. Letzteres dann erst wieder als folgender Teil 2 dieses reichlich ambivalenten Travelogues (mit dem ich deswegen auch bei keinem Reisemagazin punkten könnte), auf dem Weg gen Norden. À tout à l’heure!


Teil II folgt.

12 Antworten

  1. Wie verblendet kann man sein, die missratenen Kinder des völlig überschätzen Schriftstellers Thomas Mann, der sich für die Anti-Musik des Zerstörerjudens Schönberg mächtig ins Zeug gelegt hat, zu verehren? Immerhin habe ich mir dann den Rest der Lektüre erspart.

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    1. Die “mißratenen Kinder” kommen mir wie eine frühe Version aktueller Großkünstler vor: Mediengeil, sexuell unentschieden oder universell, drogen- und/oder alkoholabhängig, mit unerschütterlichem, exhibitionistischem Sendungsbewußtsein ausgerüstet und die ganze Prächtigkeit überzuckert mit einem arroganten Standesdünkel, den man so auch bei gewissen Hamburger Klimatöchtern wieder findet. Und vor allem immer Hand in Hand mit dem transatlantischen Gegner Deutschlands arbeitend, auch das eine Parallele. (Klaus Mann ist dennoch immer lesenswert – gerade in der heutigen Exildiskussion, als Warnung vor todbringenden Hotelzimmern…)

    2. Ja, Klaus und Erika Mann waren anti-deutsch bis in die Haarspitzen, sie lesbisch, er schwul. D

      ie ganze Familie Mann, die man in der BRD zu der ersten Kulturaristokraten-Familie propagandistisch auszupeppen versucht (man denke nur an die Fernsehserie mit dem widerwärtigen Armin Müller-Stahl in der Hauptrolle) ist eine anti-deutsche Mistfamilie (man denke auch an den Lügenhistoriker Golo Mann) und auch künstlerisch einfach nur überschätzt. Da müsste schon viel mehr als ein langanhaltener Stromausfall und eine umfassende Bücherverbrennung kommen, bis ich die “Buddenbrocks” noch einmal in die Hand nähme.

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    3. Selbstverständlich darf man Mann kritisieren. Nicht nur die Kinder, sondern auch den Vater. Ich empfehle dabei aber genauer hinzushauen. In seiner “Deutschen Ansprache” vom 17. Oktober 1930 gibt es mit Hinblick auf den Versailler Vertrag Passagen, die heutzutage “besser erklärt werden müssen” …

      Der Redetext ist wohl deswegen nur schwer zu finden.

      1. @ G.K.

        Naja, ein guter Propagandist muss natürlich den Kenntnisstand und auch die mutmaßliche ideologische Verortung seiner Zielgruppe berücksichtigen. Wäre er 1930 so aufgetreten wie heute Durs Grünbein, dann hätte man ihn einfach ausgelacht.

        Der Propagandist muss halt so tun, als sei er einer von seine Zielgruppe, damit er erfolgreich sein Gift verspritzen kann. So schrieb Mann während des Ersten Weltkrieges ja auch “Betrachtungen eines Unpolitischen”, in denen er vorgab ein kaisertreuer Anti-Demokrat zu sein, um umso effektiver die damaligen “Verschwörungstheorien” (die mir auch aus heutiger Sicht recht plausibel zu sein scheinen) von der englischen und freimaurerischen Kriegsschuld anzugreifen.

        Thomas Mann war in seinen wechselnden Gestalten immer eine Nobelfeder für die jüdisch-freimaurerischen Interessen. Seine Kinder waren also gar keine Rebellen gegen den Vater, sondern eben nur noch untalentierter und in noch radikaleren Zeiten lebend, die eine andere Krypsis erforderten.

  2. Vor 70 Jahren trieb einen der verordnete Glaube an die nationale Superiorität ins Exil – heute der mehr oder weniger subtil aufoktroyierte Zwang zur Selbstauslöschung.

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  3. Mir geht es schon lange genauso oder noch schlimmer.
    Egal wo man hinfährt versuchen einen fast alle irgendwie zu übervorteilen, alles ist nur auf schnelles Geld machen ausgerichtet(Touristennepp).
    Egal welche Lokalität man besucht, ob Freizeitpark, Attraktionen, vor allem mit Kindern ist alles psychologisch so geschickt aufgebaut, das viele gar nicht anders können als ständig irgendwas zu kaufen.
    Ich war vor Jahren im Sealife, am Eingang wird erstmal ein nicht geringes Eintrittsgeld aufgerufen, dann ungefragt ein Foto von einem gemacht, was man dann später für eine unverschämte Summe kaufen soll.
    Nachdem man durch die Attraktion ist, kommt man in einen Merchandise-Laden raus, den man nicht umgehen kann und durch unzählige Reihen und Barrieren geschleust, mit schön buntem aber völlig überteuerten Wohlstandsmüll, natürlich alles wieder von Psychologen und Marketingprofis geschickt arrangiert.
    Dann kommt die Gastronomie, wo, wie könnte es anders sein, wieder mit völlig überteuerten Kaffee, Snacks, Süßkram und Eis, wieder mal die Brieftasche erleichtert werden soll. Alles ist nur noch auf maximale Abzocke getrimmt.

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    1. Wir leben in Zeiten, in denen immer mehr Leute glauben, sie müssen andere mit der Brechstange manipulieren/nudgen. Dementsprechend sind wir den ganzen Tag umgeben von Propaganda und Manipulation. Es gibt aber kein gutes Leben im Schlechten, wie der Autor ja auch schon bemerkt hat. Wohin man sich auch begibt: Alles Scheiße.

  4. ZITAT: “Gerade die Franzosen haben mich, abgesehen von meinen Landsleuten, vor zwei Jahren mit ihrem befremdlichen Corona-Gehorsam so bitter enttäuscht.”

    Die einzigen hier in der Gegend, die wirklich einen Hang zur Freiheit haben, scheinen mir die Ungarn zu sein.

  5. Gegen Ende der 1960er Jahre bin ich mit meinen Eltern das erste Mal über die Route Napoléon bis zur Côte d’Azur gefahren. Aber besser als die Côte d’Azur hat mir schon immer die Provence und dort die weiter westlich gelegenen Landschaften wie der Luberon gefallen . Bis heute sind sie weniger überlaufen, sehr pittoresk und noch nicht ganz voller Geschäftigkeit. Natürlich wird es an der Fontaine de Vaucluse oder am Gorges du Verdon voller, aber das sind Tagesausflüge. Besonders sind mir die vielen Glühwürmchen auf einer gemähten Wiese direkt hinter der Terrasse einer Ferienwohnung in Erinnerung. Etwas, das die meisten jungen Menschen in Deutschland gar nicht mehr kennen. Daß Städte unsicher sind, sah man beim Terroranschlag auf der Promenade des Anglais in Nizza am 14. Juli 2016. In den Kleinstädten und Dörfern geht es dagegen noch beschaulich zu. Aber dort länger zu leben, kann für manche Menschen auch stinklangweilig sein. Samuel Beckett soll aus diesem Grund während seines Exils in Roussillon zwischen 1942 und 1945 sein Theaterstück “Warten auf Godot” geschrieben haben. Meiner Ansicht nach weitaus lesenswerter ist die vollskundliche Studie “Dorf in der Vaucluse” von Laurence Wylie über diesen Ort. Aber meine Frau und ich haben andere Teile des Hexagon sträflich vernachlässigt. Deshalb ging es dieses Jahr Ende Oktober nach Verdun und Umgebung. Traurig sind nicht nur die Stätten dort, sondern vor allem die Tatsache, daß die Politiker bis heute nichts daraus lernen wollten.

  6. Ich bin nicht unbedingt der Reisetyp, aber Ihren Bericht habe ich sehr gerne gelesen, auch wegen Ihrer Sprache.